September 2024 Blog

Zinsen auf unionsrechtswidrig erhobene Beträge

Mit Beschluss vom 7. August 2024 (VII B 168/22) hat der Bundesfinanzhof (BFH) bestätigt, dass Zinsen auf Erstattungsbeträge, die aufgrund einer fehlerhaften behördlichen Entscheidung unter Verstoß gegen EU-Recht erhoben wurden, auch dann zu zahlen sind, wenn kein gerichtlicher Rechtsbehelf auf Erstattung eingelegt worden ist.

Rechtsfrage und Verfahrensgang

Der Beschluss des BFH erging auf die Beschwerde des Hauptzollamtes Hamburg (HZA) wegen Nichtzulassung der Revision gegen das Urteil des Finanzgerichts (FG) Hamburg vom 3. November 2022 (4 K 56/18). Dem Urteil des FG Hamburg war eine Aussetzung des Verfahrens und eine Vorlage an den Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) vorausgegangen. Die Vorlagefragen betrafen Inhalt und Umfang des unionsrechtlichen Zinsanspruchs.

Im Grundsatz ging es zum einen um die Frage, ob der unionsrechtliche Grundsatz, dass Beträge, die unter Verstoß gegen das Unionsrecht erhoben bzw. vorenthalten wurden, im Falle ihrer Erstattung bzw. verspäteten Auszahlung ab dem Zeitpunkt ihrer rechtswidrigen Erhebung bzw. Vorenthaltung zu verzinsen sind, auch auf Konstellationen Anwendung findet, in denen nicht eine Rechtsgrundlage wegen Verstoßes gegen das Unionsrecht vom Gerichtshof für ungültig oder unanwendbar erklärt wurde, sondern Unionsrecht von den mitgliedstaatlichen Behörden „lediglich“ fehlerhaft ausgelegt und angewendet wurde. Zum anderen hatte das FG Hamburg dem EuGH die Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt, ob ein Anspruch auf Verzinsung des fraglichen Geldbetrags auch dann besteht, wenn die Erstattung bzw. Auszahlung nicht gerichtlich verfolgt wurde, sondern lediglich mit einem Rechtsbehelf auf der ersten Stufe gegenüber der mitgliedstaatlichen Zollbehörde geltend gemacht wurde (vgl. Art. 44 Abs. 2 lit. a UZK).

Der EuGH hatte auf das Vorlageersuchen des FG Hamburg mit Urteil vom 28. April 2022 in den verbundenen Rechtssachen C-415/20, C-419/20 und C-427/20 (Gräfendorfer) zum einen entschieden, dass Zinsen auf unionsrechtswidrig erhobene oder vorenthaltene Beträge auch dann zu zahlen sind, wenn die Erhebung bzw. Vorenthaltung auf einer unzutreffenden Auslegung oder fehlerhaften Anwendung des Unionsrechts durch eine mitgliedstaatliche Behörde beruht. Art. 116 Abs. 6 UZK, der besage, dass auf Erstattungsbeträge keine Zinsen zu zahlen seien, stehe dem nicht entgegen. Denn diese Regelung sei auf Fälle der Zollabfertigungsverfahren beschränkt, in denen entweder die Zollbehörde oder ein Wirtschaftsteilnehmer kurz nach der ursprünglichen Zollabfertigung eine Anpassung der Zollabgaben verlange und diese Anpassung von beiden Parteien anerkannt werde. Wenn es jedoch zu einem Rechtsstreit komme, fiele dieser Fall nicht unter Art. 116 Abs. 6 UZK. Zum anderen hatte der EuGH in seiner Gräfendorfer-Entscheidung festgestellt, dass eine nationale Regelung wie der § 236 Abgabeordnung (AO), der die Zahlung von Zinsen nur für den Zeitraum ab Einlegung eines gerichtlichen Rechtsbehelfs bis zum Zeitpunkt der Erstattung bzw. Auszahlung vorsieht, mit unionsrechtlichen Grundsätzen nicht vereinbar ist.

Das FG Hamburg hatte daraufhin mit Urteil vom 3. November 2022 das HZA verpflichtet, der Klägerin Zinsen für den gesamten Zeitraum zu zahlen, der zwischen dem Tag liegt, an dem die Ausfuhrerstattung hätte gezahlt werden müssen bzw. an dem die Sanktion entrichtet wurde, und dem Tag, an dem ihr die Ausfuhrerstattung tatsächlich gezahlt bzw. die Sanktion erstattet wurde. § 236 AO, der den Zinsanspruch in Bezug auf Erstattungsbeträge auf den Zeitraum ab Einlegung des gerichtlichen Rechtsbehelfs bis zum Tag der Entscheidung des Gerichts beschränke, sei mit den vom EuGH entwickelten unionsrechtlichen Grundsätzen unvereinbar mit der Folge, dass diese Vorschrift im Streitfall keine Anwendung finde. Daher habe die Klägerin auch einen Anspruch auf Verzinsung derjenigen Geldbeträge, der nicht Gegenstand gerichtlicher Verfahren, sondern nur behördlicher Einspruchsverfahrens gewesen seien, die mit Blick auf ein gerichtliches Musterverfahren ruhend gestellt worden seien. Die Revision gegen die Entscheidung wurde nicht zugelassen.

Nichtzulassungsbeschwerde des HZA und Beschluss des BFH

Gegen die Nichtzulassung der Revision legte das HZA am 6. Dezember 2022 Beschwerde beim BFH ein. In seiner Beschwerdebegründung machte das HZA sowohl die grundsätzliche Bedeutung gemäß § 115 Abs. 2 Nr. 1 FGO als auch das Erfordernis einer Entscheidung des BFH zur Fortbildung des Rechts gemäß § 115 Abs. 2 Nr. 2 Alt. 1 FGO geltend. Hierbei stellte das HZA nicht in Frage, dass Zinsen auf unionsrechtswidrig erhobene oder vorenthaltene Beträge auch dann zu zahlen sind, wenn die Erhebung bzw. Vorenthaltung nicht auf einer unionsrechtswidrigen Rechtsgrundlage, sondern „lediglich“ auf einer unzutreffenden Auslegung oder fehlerhaften Anwendung des Unionsrechts durch eine mitgliedstaatliche Behörde beruht. Stattdessen richtete sich die Beschwerde des HZA alleine gegen die Feststellungen des FG Hamburg, dass

  1. die sich aus § 236 AO ergebene Beschränkung der Verzinsung von Erstattungsansprüchen auf rechtshängig gewordene Fälle gegen die unionsrechtlichen Grundsätze der Äquivalenz und Effektivität verstößt und
  2. unmittelbar auf den aus dem unionsrechtlichen Effektivitätsgrundsatz fließenden primären unionsrechtlichen Zinsanspruch abgestellt werden kann, um einen Zinsanspruch in Fällen von nicht rechtshängig gewordenen Verfahren zu begründen.

Der BFH erteilte dem Vorbringen des HZA in seinem Beschluss vom 7. August 2024 eine klare Absage, indem er feststellte, dass die vom HZA aufgeworfenen Rechtsfragen durch die Rechtsprechung des EuGH bereits hinreichend geklärt seien und daher weder grundsätzliche Bedeutung aufwiesen noch ihre Beantwortung zur Fortbildung des Rechts erforderlich sei.

So habe der EuGH in seiner Gräfendorfer-Entscheidung klargestellt, „dass die zu zahlenden Zinsen den Gesamtzeitraum abdecken, der je nach Lage des Falls zwischen dem Tag, an dem der Betreffende den fraglichen Geldbetrag entrichtet hat oder hätte erhalten sollen, und dem Tag liegt, an dem dieser ihm erstattet oder an ihn entrichtet wurde“. Zudem habe der EuGH deutlich gemacht, dass „eine Verzinsung auch dann zu gewähren ist, wenn die Abgaben aufgrund einer falschen behördlichen Entscheidung festgesetzt wurden und der Rückzahlungsanspruch nicht rechtshängig war“ und dass eine Beschränkung der Zinspflicht auf Fälle, die vor Gericht entschieden wurden, wie in § 236 AO geregelt, dem unionsrechtlichen Grundsatz der Effektivität widerspräche. Verfahrensrechtliche Besonderheiten in den einzelnen Mitgliedstaaten, wie etwa der Umstand, dass das Rechtsbehelfsverfahren in Deutschland kostenfrei sei, seien nicht geeignet, den unionsrechtlichen Zinsanspruch zu beschränken.

Auch die zweite vom HZA aufgeworfene Rechtsfrage sei vom EuGH in seiner Gräfendorfer-Entscheidung geklärt worden. So habe der EuGH entschieden, „dass in Ermangelung einer Unionsregelung die Modalitäten für die Zahlung von Zinsen bei Erstattung von unter Verstoß gegen das Unionsrecht erhobenen Geldbeträgen von der innerstaatlichen Rechtsordnung jedes Mitgliedstaats zu regeln sind, die den Grundsätzen der Äquivalenz und der Effektivität entsprechen müssen“. Daraus sei zu schließen, „dass eine Umsetzung des sich aus dem Grundsatz der Effektivität ergebenden unionsrechtlichen Zinsanspruchs in nationales Recht nicht zwingend erforderlich ist, sondern das nationale Recht gegebenenfalls unionsrechtskonform auszulegen ist“.

Hinweis für die Praxis

Durch den Beschluss des BFH dürfte nunmehr abschließend geklärt sein, dass die nationalen Zollbehörden auch Zinsen auf Erstattungsbeträge zahlen müssen, die aufgrund einer fehlerhaften Auslegung oder Anwendung des EU-Rechts festgesetzt wurden, wenn gegen die EU-rechtswidrige Festsetzung zwar Einspruch eingelegt, die Forderung aber nicht gerichtlich geltend gemacht wurde.

Wirtschaftsbeteiligte sollten daher in allen Fällen, in denen ihnen nach Durchführung eines Rechtsstreits unionsrechtswidrig erhobene Beträge erstattet oder unionsrechtswidrig vorenthaltene Beträge ausgezahlt werden, stets einen Antrag auf Verzinsung stellen und zwar ab dem Zeitpunkt der Entrichtung bzw. Vorenthaltung. Dies gilt auch, dann, wenn es nicht zu einem Gerichtsverfahren gekommen ist, sondern dem Einspruch bereits im Verwaltungsverfahren abgeholfen wurde.

Noch nicht abschließend geklärt ist hingegen die Frage, ob die aufgrund der unionsrechtlichen Vorgaben zu zahlenden Zinsen wiederum zu verzinsen sind. Das Hessische FG hatte mit Urteil vom 31. Mai 2023 (7 K 998/20) einen derartigen Anspruch auf Zinseszinsen abgelehnt. Gegen das Urteil ist derzeit eine Nichtzulassungsbeschwerde beim BFH (VII B 96/23) anhängig.

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