Oktober 2020 Blog

Reich­weite des unions­recht­lichen Zins­anspruchs – Vorab­ent­scheidung soll Klar­heit schaffen

Mit mehreren kürzlich eingereichten Vorabentscheidungsersuchen hat das Finanzgericht Hamburg den Europäischen Gerichtshof (EuGH) ersucht, darüber zu entscheiden, ob der unionsrechtliche Anspruch auf die Verzinsung von Erstattungsbeträgen auch in anderen Konstellation als der Ungültig- bzw. Nichtigerklärung von Unionsnormen Anwendung finden kann.

Nach gefestigter EuGH-Rechtsprechung sind Mitgliedsstaaten verpflichtet, zu erstattende Beträge ab dem Zeitpunkt ihrer Entrichtung zu verzinsen, wenn Einfuhr- oder andere Abgaben unter Verstoß gegen Unionsrecht erhoben worden sind. Das FG Hamburg legt nun dem EuGH Fragen zu Folgen von Rechtsanwendungsfehlern vor.

Aktuelle Rechtslage

Wenn ein Wirtschaftsteilnehmer von einer Behörde Abgaben erstattet bekommt, weil diese zu Unrecht erhoben worden sind, besteht ein erkennbares Interesse daran, die wirtschaftlichen Einbußen aufgrund der mangelnden Verfügbarkeit der betroffenen Geldbeträge in Form von Zinsen ausgeglichen zu bekommen. Je nach Verfahrensdauer und Erstattungssumme kann dies erhebliche Beträge betreffen. Nach nationalem Recht kommt eine Verzinsung von Erstattungsbeträgen gemäß § 236 Abgabenordnung allerdings nur in Betracht, wenn und solange die Erstattung Gegenstand eines gerichtlichen Verfahrens war, was oftmals kein befriedigendes Ergebnis darstellt.

Nach der gefestigten Rechtsprechung des EuGH, welche dieser zuletzt in seinem Wortmann-Urteil (C-365/15) bestätigt hat, besteht zusätzlich eine unionsrechtliche Pflicht der Mitgliedstaaten, erstattete Abgabenbeträge bereits ab dem Zeitpunkt ihrer Entrichtung zu verzinsen, wenn diese unter Verstoß gegen das Unionsrecht erhoben worden sind. In den bisher durch den EuGH entschiedenen Konstellationen ging es dabei stets um die Abgabenerhebung aufgrund von Normen, die später wegen eines Verstoßes gegen das Unionsrecht für ungültig bzw. nichtig erklärt wurden – also um Rechtssetzungsfehler.

Seither streiten deutsche Behörden und Wirtschaftsteilnehmer darüber, ob dieser Anspruch auch auf andere Konstellationen, in denen Abgaben unter Verstoß gegen Unionsrechts erhoben und später erstattet worden sind, ausgeweitet werden kann.

Verfahren des Finanzgerichts Hamburg

Das Finanzgericht Hamburg hat sich kürzlich in verschiedenen Fällen mit dieser Frage beschäftigt. In allen drei betroffenen Verfahren geht es nicht um die – hier jeweils unstrittige – Rechtsmäßigkeit der unionsrechtlichen Erhebungsgrundlage, sondern um Folgen von Rechtsanwendungsfehlern.

In dem Verfahren 4 K 67/18 liegt dem geltend gemachten Zinsanspruch eine Entscheidung zugrunde, mit der das Hauptzollamt zu Unrecht Einfuhrabgaben nacherhoben hatte, weil es Waren einer unzutreffende Position der Kombinierten Nomenklatur zugeordnet hatte. In der Sache 4 K 56/18  hatte das Hauptzollamt eine Unterposition der Kombinierten Nomenklatur falsch ausgelegt und zu Unrecht die Gewährung von Ausfuhrerstattungen verweigert und überdies eine Sanktion wegen vermeintlich überhöhter Beantragung von Ausfuhrerstattungen verhängt. Im Verfahren 4 K 14/20 schließlich hatte die Behörde einen fehlerhaften Sachverhalt zugrunde gelegt und daher Antidumpingzölle erhoben, die sie später erstatten musste.

Vorlagefragen

Im August/September 2020 wandte sich das Finanzgericht Hamburg im Rahmen der drei genannten Verfahren mit Vorabentscheidungsersuchen an den EuGH (C-427/20 - „Flexi Montagetechnik“; C-415/20 - „Gräfendorfer Geflügel- und Tiefkühlkost“; C-419/20 - „F. Reyher“). Im Ergebnis geht es dem Finanzgericht in allen Fällen darum, eine verbindliche Klärung zu erwirken, ob der sog. unionsrechtliche Zinsanspruch auch auf solche Fälle ausgeweitet werden kann, in denen eine Erstattung im Einzelfall wegen der Verletzung bzw. der fehlerhaften Anwendung rechtsgültigen Unionsrechts durch eine mitgliedstaatliche Behörde erfolgt ist.

Hierfür sprechen gute Argumente. Sinn und Zweck des unionsrechtlichen Verzinsungsanspruchs ist es, die Vermögenseinbußen zu kompensieren, die aufgrund mangelnder Verfügbarkeit von Geldbeträgen erlitten wurden. Aus Sicht des betroffenen Abgabenpflichtigen dürfte es aber letztlich keinen Unterschied machen, ob seine Einbußen auf einem später für unionsrechtswidrig erklärten Rechtsetzungsakt oder auf einer Einzelfallentscheidung beruhen, die unter Missachtung von Unionsrecht ergangen ist.

Ausblick

Die Entscheidung des EuGH bleibt mit Spannung abzuwarten und wird entscheidende Auswirkung auf zahlreiche laufende und künftige behördliche Erstattungs- und Einspruchsverfahren haben.

Wirtschaftsteilnehmer, die entsprechende Erstattungen erhalten, sollten überlegen, bei der zuständigen Behörde einen Anspruch auf Zinsen auf Grundlage des unionsrechtlichen Zinsanspruches geltend zu machen, wobei wir gerne unterstützen können. Sollte der EuGH im Ergebnis den Anspruch ablehnen, kann der Antrag ohne finanzielle Konsequenzen zurückgenommen werden.

Nina Kunigk, Rechtsanwältin
Marian Niestedt, Rechtsanwalt
beide Hamburg

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