Berücksichtigung neuer fachwissenschaftlicher Erkenntnisse bei der Überprüfung immissionsschutzrechtlicher Genehmigungen
Das BVerwG stellt klar: Für die Rechtmäßigkeitsprüfung einer immissionsschutzrechtlichen Genehmigung kommt es auf den Genehmigungszeitpunkt an. Nachträglich eingetretene fachwissenschaftliche Erkenntnisse sind nur zu berücksichtigen, wenn sie sich zugunsten des Anlagenbetreibers auswirken.
Sachverhalt und Einordnung
Eine anerkannte Umweltvereinigung wandte sich mit ihrer Klage gegen eine im Jahr 2009 erteilte immissionsschutzrechtliche Genehmigung zur Errichtung und zum Betrieb einer Schweinemast- und Biogasanlage mit über 20.000 Tieren. Sie rügte insbesondere Fehler der Immissionsprognose und eine infolgedessen unzutreffende Bewertung der vorhabenbedingten Stickstoffeinträge in der FFH-Verträglichkeitsprüfung.
Im Verlauf des mehr als zehn Jahre andauernden gerichtlichen Verfahrens, stellte das Bundesverwaltungsgericht in seiner Rechtsprechung klar, dass bei der Ermittlung der Belastung von FFH-Gebieten durch vorhabenbedingte Stickstoffeinträge das Konzept der Critical Loads und das absolute vorhabenbezogene Abschneidekriterium von 0,3 kg N/ha/a heranzuziehen seien und erkannte diese als aktuell besten wissenschaftlichen Erkenntnisstand an, um die Belastung geschützter Lebensräume durch Stickstoffeinträge zu ermitteln (vgl. BVerwG, Urteil vom 12. Juni 2019 – 9 A 2.18, Rn. 63 ff. und Urteil vom 15. Mai 2019 – 7 C 27.17, Rn. 32 ff.).
Die bei der Genehmigungserteilung im Jahr 2009 zugrunde gelegte Immissionsprognose und FFH-Verträglichkeitsprüfung entsprachen diesem später entwickelten Maßstab erwartungsgemäß nicht. Das Oberverwaltungsgericht hielt die Genehmigung wegen des unzutreffenden Maßstabs bei der FFH-Prüfung daher für rechtswidrig.
Die neuere Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts und auch die nachträglichen Änderungen der fachlichen Erkenntnisse seien zu berücksichtigen gewesen, auch wenn sich diese zu Lasten der Anlagenbetreiberin auswirkten. Insbesondere bei neuen fachlichen Kenntnissen handele es sich lediglich um eine spätere Erkenntnis hinsichtlich einer ursprünglich bereits bestehenden Sachlage.
Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts
Dem folgte das Bundesverwaltungsgericht – in Kontinuität zu seiner ständigen Rechtsprechung – nicht.
Bei der Anfechtungsklage eines Dritten gegen eine immissionsschutzrechtliche Genehmigung sei die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der (letzten) Behördenentscheidung maßgebend. Nachträgliche Änderungen der Sach- und Rechtslage seien bei der gerichtlichen Überprüfung nur zu berücksichtigen, wenn sie sich zu Gunsten, nicht aber zu Lasten des Anlagenbetreibers auswirkten. Dem liege der Gedanke zugrunde, dass es mit der Baufreiheit nicht vereinbar wäre, eine zur Zeit ihrer Erteilung rechtswidrige Genehmigung aufzuheben, die wegen der nachträglichen Änderung der Umstände sogleich nach der Aufhebung wieder erteilt werden müsste.
Folglich sei im vorliegenden Fall auf die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der Genehmigungserteilung im Jahr 2009 abzustellen.
Die im Laufe des gerichtlichen Verfahrens eingetretenen nachträglichen Änderungen der fachlichen Erkenntnisse hinsichtlich der Anwendung des Konzepts der Critical Loads und des absoluten vorhabenbezogenen Abschneidekriteriums seien dabei – entgegen der Auffassung des Oberverwaltungsgerichts – nicht zu berücksichtigen.
Eine geänderte Bewertung von bereits bei der Genehmigungserteilung vorhandenen Tatsachen, die auf neuen fachlichen Erkenntnissen beruht, stellt nach Auffassung des Bundesverwaltungsgerichts eine nachträgliche Änderung der Sachlage dar. Bei solchen neuen fachwissenschaftlichen Erkenntnissen handele es sich ebenfalls um neue Tatsachen. Diese könnten daher nur dann berücksichtigt werden, wenn sie zu Gunsten des Anlagenbetreibers wirkten.
Dies folge zum einen aus § 6 Abs. 1 BImSchG. Dessen Prüfprogramm und die damit verbundene Feststellung, dass ein Vorhaben genehmigungsfähig sei, knüpften an den Zeitpunkt der Genehmigungserteilung an. Neue Tatsachen, die erst danach entstanden seien, könnten die Rechtmäßigkeit der erteilten Genehmigung daher nicht berühren.
Zum anderen ergebe sich dies auch aus den behördlichen Befugnissen zum Erlass nachträglicher Anordnungen (§ 17 BImSchG), zur Stilllegung des Betriebes (§ 20 BImSchG) und zum Widerruf einer erteilten Genehmigung (§ 21 BImSchG). Damit habe der Gesetzgeber den zuständigen Behörden entsprechende Befugnisse an die Hand gegeben, mit denen sie auf nachträgliche Änderungen der Sach- und Rechtslage – und damit auch neuen fachwissenschaftlichen Erkenntnissen – reagieren könnten. Die ursprüngliche Rechtmäßigkeit einer erteilten Genehmigung würde dadurch aber nicht in Frage gestellt.
Schließlich hat das Bundesverwaltungsgericht noch einmal hervorgehoben, dass in Fällen, in denen in den einschlägigen Fachkreisen und der einschlägigen Wissenschaft allgemein anerkannte Maßstäbe und Methoden für eine fachliche Beurteilung fehlen, weder die Behörde noch das Gericht gehalten seien, dieses außerrechtliche tatsächliche Erkenntnisdefizit aufzulösen. Sie seien nicht verpflichtet, Ermittlungen vorzunehmen, die über den anerkannten Stand der Wissenschaft hinausgingen oder gar Forschungsaufträge zu erteilen, um fachwissenschaftliche Erkenntnislücken selbstständig zu schließen. Unsicherheiten über Wirkungszusammenhänge, die sich auch bei Ausschöpfung der einschlägigen Erkenntnismittel nicht ausräumen ließen, begründen kein unüberwindbares Zulassungshindernis und stünden damit auch der Genehmigungserteilung nicht im Wege.
Bewertung und Konsequenzen für die Praxis
Die Entscheidung ist aus Sicht der Praxis zu begrüßen. Sie stärkt die Position der Anlagenbetreiber bei Drittanfechtungsklagen gegen die immissionsschutzrechtliche Genehmigung. Gerade vor dem Hintergrund der häufig mehrjährigen Gerichtsverfahren und dem sich stetig weiterentwickelnden wissenschaftlichen Erkenntnisstand stärkt diese Entscheidung die Rechtsposition von Vorhabenträgern in gerichtlichen Verfahren. Denn neuere fachwissenschaftliche Erkenntnisse, die sich erst im Laufe des gerichtlichen Verfahrens ergeben, sind als bloße Änderungen der Sachlage eben nur dann zu berücksichtigen, wenn sie sich zu Gunsten des Anlagenbetreibers auswirken.
Soweit das Bundesverwaltungsgericht darauf hinweist, dass neueren fachwissenschaftlichen Erkenntnissen im Übrigen durch die behördlichen Anordnungs- und Entscheidungsbefugnisse Rechnung getragen werden könne, ist anzumerken, dass diese strengen gesetzlichen Voraussetzungen unterliegen, sodass die Relevanz der vorliegenden Entscheidung in der behördlichen Praxis abzuwarten sein wird.

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