Kein Meisterstück: Regierungsentwurf eines neuen Kapitalanleger-Musterverfahrensgesetzes
Seit dem 13.3.2024 liegt nun der Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Reform des Kapitalanleger-Musterverfahrensgesetzes (KapMuG) vor. Darin wird im Vergleich zum vorangehenden Referentenentwurf vom 28.12.2023 gleich mehrfach zurückgerudert und insgesamt eine unausgegorene Reform präsentiert.
Vorgeschichte
Das KapMuG wurde 2005 angesichts hoffnungslos überlasteter Zivilgerichte im Zusammenhang mit Schadenersatzklagen wegen behaupteter Prospektfehler beim dritten Börsengang der Deutschen Telekom aus der Taufe gehoben. Erklärtes Ziel: Künftig möge einheitlich von einem Oberlandesgericht (OLG) über solche Tatsachen und Rechtsfragen entschieden werden, die eine Vielzahl rechtshängiger Einzelprozesse betreffen. Dies entlaste die Eingangsgerichte, führe zu einer Verfahrensbeschleunigung und verhindere divergierende Entscheidungen über ein und dieselbe Frage. An die Feststellung des zuständigen OLG (bzw. ggf. des Bundesgerichtshofs im Fall der Durchführung einer Rechtsbeschwerde) sollten dann alle Ausgangsprozesse gebunden sein.
Zentrale Wirkmechanik
Voraussetzung des Musterverfahrens ist es, dass innerhalb von 6 Monaten in mindestens 10 Ausgangsverfahren, in denen z. B. über angebliche Prospektfehler ein und desselben Emissionsprospekts gestritten wird, gleichgerichtete Musterverfahrensanträge gestellt werden (§ 6 Abs.1 KapMuG). Dabei sieht § 8 Abs. 1 KapMuG vor, dass die Prozessgerichte der Ausgangsverfahren nach Bekanntmachung eines auf die Durchführung des KapMuG-Verfahrens gerichteten Vorlagebeschlusses von Amts wegen nicht nur alle bereits anhängigen, sondern auch alle bis zur rechtskräftigen Entscheidung über die Feststellungsziele im Musterverfahren noch anhängig werdenden Verfahren aussetzen, wenn die Entscheidung des Rechtsstreits von den geltend gemachten Feststellungszielen abhängt. So wird die gewünschte Breitenwirkung des Verfahrens erreicht, wonach das OLG anstelle aller Ausgangsgerichte über gleichgerichtete Feststellungsziele zu entscheiden hat. Entsprechend entfaltet der Musterbescheid nach dem aktuellen § 22 Abs. 1 Satz 1 KapMuG bezüglich der beschiedenen Feststellungsziele Bindungswirkung für die Prozessgerichte in allen nach § 8 Abs. 1 KapMuG ausgesetzten Ausgangsverfahren, welche sodann einzeln weiterzuführen und zu beenden sind.
Überlange Verfahrensdauer
In der Praxis hatte sich schnell gezeigt, dass Verfahren nach dem KapMuG sehr langwierig sind – auch noch nach einer Gesetzesreform in 2012, die im Nachgang einer ersten Evaluation ergangen war. Der Autor hat selbst mehrere Musterverfahren vor dem OLG Hamburg geführt, wobei vom Tag der Einreichung des ersten Musterverfahrensantrags im Ausgangsverfahren bis zu einer rechtskräftigen Entscheidung regelmäßig zwischen 4 und 4,5 Jahren vergangen waren. In der nun vorliegenden Gesetzesbegründung der Bundesregierung vom 13.3.2024 wird daher unter der Rubrik „Problem und Ziel“ ausgeführt. dass das geltende System des KapMuG einer weiteren Reform bedürfe, wie „nicht zuletzt eine breit angelegte Praxisbefragung im Sommer 2019 gezeigt“ habe.
Zentrale Gesetzesänderungen
Keine 5 Jahre nach dieser Praxisbefragung liegt nun also ein Regierungsentwurf vor, der ausdrücklich die Entlastung der Gerichte und die Verfahrensbeschleunigung vorantreiben soll (RegE, S. 27).
Verkürzung von „Soll-Fristen“
§ 4 Abs. 1 Satz 2 RegE-KapMuG sieht nunmehr vor, dass das Prozessgericht einen zulässigen Musterverfahrensantrag binnen drei Monaten ab Eingang öffentlich bekannt machen soll. Damit wurde die bisher geltende 6-Monats-Frist des § 3 Abs. 3 Satz 1 KapMuG zwar halbiert, der Referentenentwurf vom 28.12.2023 hatte die Frist allerdings immerhin auf 2 Monate verkürzen wollen.
Einmal dabei, sieht § 9 Abs. 5 RegE-KapMuG vor, dass die Entscheidung des OLG über die Eröffnung des Musterverfahrens binnen vier Monaten ab Bekanntmachung des Vorlagebeschlusses ergehen soll. Auch hier bleibt der Regierungsentwurf hinter dem Referentenentwurf zurück, der eine Soll-Frist von drei Monaten vorgesehen hatte.
Elektronische Aktenführung
Nach § 15 RegE-KapMuG werden die Prozessakten des erstinstanzlichen Musterverfahrens in Abweichung von § 298a Abs. 1a Satz 1 ZPO ab dem 1. Januar 2025 elektronisch geführt. Bisher besonders langwierige Akteneinsichten können hiernach künftig parallel und damit schneller erfolgen.
Reduzierung der Verfahrensbeteiligten
Bereits der Referentenentwurf hatte wegen der Komplexität der Musterverfahren mit der intendierten Breitenwirkung des KapMuG-Verfahrens gebrochen und vorgesehen, nur noch diejenigen Ausgangsverfahren zu unterbrechen sind, in denen von einer Partei ein Musterantrag gestellt wurde. § 6 RegE-KapMuG übernimmt diesen Ansatz. Korrespondierend hierzu regelt § 11 Abs. 4, Abs. 1 Nr. 3 RegE-KapMuG, dass Beigeladene des Musterverfahrens nur noch die Kläger von nach § 6 RegE-KapMuG ausgesetzten Ausgangsverfahren sind.
Stärkung der Rolle des OLG
Nach § 9 Abs. 1 RegE-KapMuG eröffnet das OLG das Musterverfahren durch einen Eröffnungsbeschluss, soweit sich aus den Musterverfahrensanträgen gleichgerichtete Feststellungsziele ergeben und eine Verhandlung und Entscheidung im Musterverfahren sachdienlich ist. Dabei werden die Feststellungsziele vom OLG anhand der vorgelegten Musterverfahrensanträge der Ausgangsverfahren bestimmt (§ 9 Abs. 2 Nr. 1 RegE-KapMuG). Dabei soll die Formulierung „anhand“ zum Ausdruck bringen, dass sich das OLG bei Bestimmung der Feststellungsziele im Einklang mit § 308 Absatz 1 ZPO innerhalb des durch die vorgelegten Musterverfahrensanträge bestimmten potenziellen Rahmens des Musterverfahrens halten muss. Es ist also nicht befugt, den Gegenstand des Musterverfahrens durch die Bestimmung gänzlich neuer Feststellungsziele, die in den vorgelegten Musterverfahrensanträgen nicht angelegt sind, noch zu erweitern. Innerhalb des durch die Musterverfahrensanträge gezogenen Rahmens soll es aber berechtigt sein, das Musterverfahren insbesondere durch Auswahl nur einzelner Feststellungsziele, durch Kombination mehrerer Feststellungsziele oder deren Umformulierung das Musterverfahren so inhaltlich zuzuschneiden, dass das Musterverfahren prozessökonomisch sinnvoll geführt werden kann (RegE-KapMuG, S. 39). Zu dieser Klarstellung sah sich die Bundesregierung anlässlich breiter Kritik an dem entsprechenden Passus im Referentenentwurf vom 28.12.2023 genötigt, der im dortigen § 10 Abs. 2 Nr. 1 noch vorgesehen hatte, dass das OLG die Feststellungsziele nach billigem Ermessen anhand der Musterverfahrensanträge bestimmt.
Kritik
Was lange währt, wird endlich gut. Für Kapitalanleger-Musterverfahren galt und gilt dies leider nur bedingt. Und auch der Regierungsentwurf für eine Reform des KapMuG dürfte hieran nichts Substantielles ändern: Ein großer Wurf ist er nicht.
Echtes Potential zur Verfahrensbeschleunigung dürfte jedoch die Verlagerung der Zuständigkeit zur Bestimmung der Feststellungsziele vom vorlegenden Ausgangsgericht (§ 6 Abs. 1 KapMuG) auf das verfahrensführende OLG (§ 9 Abs. 2 Nr. 1, Abs. 1 RegE-KapMuG) besitzen. Denn in der Praxis wurden KapMuG-Verfahren oftmals durch unpräzise formulierte Vorlagebeschlüsse der Ausgangsgerichte mit unklaren oder sich überschneidenden Feststellungszielen verzögert. Im Verfahren vor dem (an den Vorlagebeschluss des Ausgangsgerichts nach aktueller Rechtslage gebundenen) OLG führte dies dann dazu, dass Musterkläger – deklariert als „Interpretationshilfen“ – eigenmächtig umfangreiche Umformulierungen der verbindlichen Feststellungziele vorgenommen haben bzw. nach entsprechender Rüge Erweiterungsanträge stellten, über die das OLG wiederum zweckmäßiger Weise erst nach Anhörung aller Verfahrensbeteiligten zu entscheiden hatte: ein beträchtliches Verzögerungspotential. Die jetzige Regelung, wonach das OLG selbst sinnvolle und abgrenzbare Feststellungsziele zu bestimmen hat, dürfte unter dem Gesichtspunkt der Verfahrensbeschleunigung daher vorteilhaft sein.
Anders sieht es mit den im Vergleich zum Referentenentwurf entschärften „Soll-Fristen“ aus. Ob diese zu einer merklichen Verfahrensverkürzung führen, darf bezweifelt werden. § 15 RegE-KapMuG, wonach die Prozessakten des erstinstanzlichen Musterverfahrens in Abweichung von § 298a Abs. 1a Satz 1 ZPO ab dem 1. Januar 2025 elektronisch geführt werden, dürfte hier zielführender sein.
Wohl kaum eine Verbesserung in Sachen Verfahrensbeschleunigung, dafür aber eine Gefährdung der das KapMuG-Verfahren rechtfertigenden Breitenwirkung, dürfte die Folge der vorgesehenen Reduzierung der Verfahrensbeteiligten auf die Kläger und Beklagten allein der ausgesetzten Ausgangsverfahren mit sich bringen. Zur Erinnerung: Das KapMuG wurde aus der Taufe gehoben, um Gerichte zu entlasten, indem im Hinblick auf eine Vielzahl an Verfahren mit gleichläufigen Feststellungszielen eine einheitliche Entscheidung des zuständigen OLG herbeigeführt wird. Hierfür sollen sämtliche betroffene Ausgangsverfahren ausgesetzt werden und die dortigen Parteien an die Entscheidung im KapMuG-Verfahren gebunden sein.
Die aktuelle Konzeption des Regierungsentwurfs, nach der allein diejenigen Ausgangsverfahren ausgesetzt werden, in denen ein Musterverfahrensantrag gestellt wurde, läuft dem Konzept der Breitenwirkung jedoch zuwider. Zwar sind aktuell alle Parteien sämtlicher Ausgangsverfahren Verfahrensbeteiligte und haben das Recht, sich schriftsätzlich einzubringen. Diese theoretische Möglichkeit mag der Gesetzgeber beim Verfassen des §§ 6, 11 Abs. 4, Abs. 1 Nr. 3 RegE-KapMuG im Blick gehabt haben. In den dem Autor bekannten Verfahren haben allerdings allein der Musterkläger und die zentralen Musterbeklagten (z. B. die Prospektverantwortlichen) substantiell inhaltlich vorgetragen; andere Beteiligte haben – wenn überhaupt – anschließend hierauf verwiesen. Es wird daher nicht recht ersichtlich, dass und inwieweit die Neuregelung zu einer Beschleunigung des Verfahrens führen wird.
Sie könnte jedoch dazu führen, dass ein „Kapitalanlagemusterverfahren“ künftig allein noch mit Blick auf die erforderlichen zehn unterbrochenen Ausgangsverfahren geführt wird. Dies dann, wenn keine weiteren Parteien gleichgelagerter Ausgangsverfahren aktiv einen Musterverfahrens- oder Erweiterungsantrag stellen. Etwa weil ihnen das Verfahren schlicht zu lang dauert. Wenn es aber mangels weiterer Musterverfahrensanträge bei 10 ausgesetzten Ausgangsverfahren bleibt, werden die Ausgangsgerichte der nicht ausgesetzten Verfahren ggf. doch wieder voneinander abweichend über gleichgerichtete Prozessfragen entscheiden. Zum Nachteil der Parteien und zu ihrem Nachteil: Denn ihre Entlastung findet dann ja nicht statt. Wenn aber, wie im Fall von durch Anlegerkanzleien gebündelten Ausgangsverfahren mit einer Vielzahl von Einzelklägern zu erwarten, in sämtlichen dieser Verfahren auch Musterverfahrensanträge gestellt werden, ändert sich durch die neue Regelung jedenfalls in puncto Beschleunigung nichts: Alle Parteien dieser Anlegerklagen wären – wie auch nach aktueller Rechtslage – Verfahrensbeteiligte des KapMuG-Verfahrens. Vorteilhaft ist die geplante Neuregelung daher allein im Sinne einer negativen Freiheit der Parteien, nicht von Gesetzes wegen am KapMuG-Verfahren teilnehmen zu müssen.
Alles in allem bleibt ein leicht fader Nachgeschmack und man mag doch ein wenig bezweifeln, ob die Bundesregierung das Kapitalanlegermusterfahren insgeheim nicht lieber begraben würde. Es bleibt natürlich gleichwohl abzuwarten, wie sich das reformierte KapMuG in der Praxis bewährt.

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