September 2021 Blog

Bundes­tags­wahl­recht unter Vor­be­halt

Das Bundesverfassungsgericht hat einen Eilantrag gegen das aktuell geltende Bundestagswahlrecht abgelehnt, gleichzeitig aber erhebliche verfassungsrechtliche Zweifel an der jüngsten Neuregelung artikuliert. Das Wahlrecht zum Deutschen Bundestag wird somit auch in der kommenden Legislaturperiode auf der rechtspolitischen Agenda bleiben.

Hintergrund der Entscheidung

Das Wahlrecht für die Wahlen zum Deutschen Bundestag war in den letzten Jahren wiederholt Gegenstand von Diskussionen politischer und verfassungsrechtlicher Art. Stein des Anstoßes war stets § 6 Bundeswahlgesetz (BWahlG), der das Sitzzuteilungsverfahren hinsichtlich der abgegebenen Zweitstimmen regelt. Die Sitzzuteilung ist insbesondere dann umstritten, wenn eine Partei über die Erststimmen mehr Direktmandate gewonnen hat als ihr nach ihrem Zweitstimmenanteil zustehen. Diese sog. Überhangmandate verbleiben der Partei, wurden seit einer Reform im Jahr 2013 aber durch Ausgleichsmandate bei den anderen Parteien vollständig kompensiert, so dass die Sitzverteilung der Parteien im Bundestag im Ergebnis wieder ihrem Zweitstimmenanteil entsprach. Da dieses Verfahren bei der Wahl zum 19. Deutschen Bundestag dazu geführt hatte, dass dieser eine Größe von 709 Abgeordneten erreichte, die allgemein als zu groß empfunden wurde, wurde das Wahlrecht erneut geändert. Bei der Wahl zum 20. Deutschen Bundestag sollte eine Verkleinerung des Parlaments dadurch erreicht werden, dass drei Überhangmandate nicht ausgeglichen werden und die Verrechnung der Direktmandate mit den Landeslisten der Partei modifiziert wird. Gegen diese Neuregelung stellten 216 Abgeordnete der Oppositionsfraktionen Normenkontrollantrag vor dem Bundesverfassungsgericht und beantragten gleichzeitig, die Neuregelung für die Wahl am 26. September 2021 zum 20. Deutschen Bundestag nicht anzuwenden.

Inhalt der Entscheidung

Der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts hat den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung gemäß § 32 Bundesverfassungsgerichtsgesetz auf Grundlage einer umfangreichen Folgenabwägung abgelehnt.

Dies entspricht der ständigen Rechtsprechung des Gerichts, wonach im Eilverfahren die Gründe für die Verfassungswidrigkeit der angegriffenen Maßnahme grundsätzlich außer Betracht bleiben. Vielmehr wägt es die Folgen ab, die einträten, wenn einerseits eine einstweilige Anordnung nicht erginge, der Antrag in der Hauptsache aber Erfolg hätte, und andererseits die begehrte einstweilige Anordnung erlassen würde, dem Antrag in der Hauptsache aber der Erfolg zu versagen wäre. Die Maßstäbe dieser sog. Doppelhypothese verschärfen sich noch einmal, wenn – wie im hiesigen Fall – der Vollzug eines Gesetzes ausgesetzt werden soll. Dies stellt einen erheblichen Eingriff in die Kompetenzen des Gesetzgebers dar, weswegen das Bundesverfassungsgericht von dieser Möglichkeit nur mit größter Zurückhaltung Gebrauch macht. Im vorliegenden Fall seien die Gründe für den Erlass einer einstweiligen Anordnung zwar durchaus gewichtig (u. a. Legitimationsfunktion der Bundestagswahl beeinträchtigt bei Durchführung auf Grundlage eines verfassungswidrigen Wahlgesetzes), im Hinblick auf die ebenfalls gewichtigen Gründe gegen den Erlass einer einstweiligen Anordnung (u. a. weitere Vergrößerung des Bundestages wahrscheinlich, erheblicher Eingriff in Sphäre des Gesetzgebers ohne nachträgliche Korrekturmöglichkeit) sei das notwendige Überwiegen aber nicht festzustellen.

Während das Ergebnis dieser Folgenabwägung nicht überrascht, ist durchaus bemerkenswert, welchen Umfang die Ausführungen zu einer möglichen Verfassungswidrigkeit der Neuregelung des Wahlrechts haben. So sei nicht von vornherein ausgeschlossen, dass diese gegen das Bestimmtheitsgebot sowie gegen die Grundsätze der Wahlrechtsgleichheit und der Chancengleichheit der Parteien verstößt. Das Bundesverfassungsgericht geht aber sogar noch darüber hinaus und hält es – obwohl die Antragsteller dies gar nicht gerügt hatten – auch nicht für ausgeschlossen, dass § 6 BWahlG in seiner neuen Fassung insgesamt gegen den Grundsatz der Normenklarheit verstößt. Das Regelungsgeflecht hinsichtlich der Berechnung der Sitzzuteilung für den Deutschen Bundestag sei schon unter der alten Rechtslage für den Wähler kaum noch nachvollziehbar gewesen und der Komplexitätsgrad der Vorschrift habe sich durch die Neuregelung weiter gesteigert. Ob die Norm die verfassungsrechtlichen Anforderungen erfülle, sei aber insgesamt der Prüfung im Hauptsacheverfahren vorbehalten.

Ausblick

Der Senat hat in der Eilentscheidung deutlich gemacht, dass er § 6 BWahlG im Hauptsacheverfahren umfangreich auf seine Verfassungsmäßigkeit überprüfen wird. Diese Prüfung kann einige Zeit in Anspruch nehmen. Nach den überraschend deutlich ausgefallenen Zwischentönen der Eilentscheidung erscheint es aber durchaus als möglich, dass die Norm (ganz oder zumindest teilweise) für verfassungswidrig erklärt wird. Der 20. Deutsche Bundestag wäre dann zwar auf der Grundlage eines verfassungswidrigen Wahlgesetzes gewählt worden. Dies führt aber nicht automatisch dazu, dass die Wahl für ungültig erklärt und eine Neuwahl angeordnet wird. Ein mandatsrelevanter Wahlfehler kann zwar im Wahlprüfungsverfahren dazu führen, dass die Wahl für ungültig erklärt wird. Dies hängt aber von einer Abwägung zwischen dem im Demokratieprinzip wurzelnden Bestandsschutz der gewählten Volksvertretung und den Auswirkungen des festgestellten Wahlfehlers ab. Diese Abwägung fällt regelmäßig zu Gunsten des Bestandsschutzes aus, so dass die Anordnung einer Neuwahl als eher fernliegend erscheint. Naheliegend ist hingegen, dass das Wahlrecht bis zur Wahl des 21. Deutschen Bundestages erneut geändert wird. Mehrere Parteien haben bereits entsprechende Vorschläge für die nächste Legislaturperiode angekündigt. Möglicherweise werden dann auch die Ergebnisse der vom Bundestag jüngst eingesetzten Kommission zur Reform des Bundeswahlrechts Berücksichtigung finden, die bis zum 30. Juni 2023 ihren Abschlussbericht vorlegen soll.

Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 20. Juli 2021 – 2 BvF 1/21

Dr. Felix Kazimierski, Rechtsanwalt
Hamburg

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