Einbeziehung weiterer Vorhaben in die FFH-Verträglichkeitsprüfung (Summationsprüfung)
Das Bundesverwaltungsgericht (BVerwG) hat mit seinem Urteil vom 15. Mai 2019 (7 C 27.17) über drei wichtige Grundsatzfragen entschieden: erstens der Anforderungen an die Einbeziehung weiterer Vorhaben in die FFH-Verträglichkeitsprüfung (Summationsprüfung), zweitens des anzuwendenden Abschneidekriteriums und drittens der mehrfachen Ausnutzung der Bagatellgrenze.
Sachverhalt
In dem der Entscheidung zugrunde liegenden Sachverhalt ging es um die Klage eines anerkannten Naturschutzvereins gegen einen der Beigeladenen erteilten immissionsschutzrechtlichen Vorbescheid sowie zwei Teilgenehmigungen für den Neubau eines Steinkohlekraftwerks in Lünen, welches zwischenzeitlich errichtet wurde und im Regelbetrieb läuft.
Summationsprüfung
Die FFH-Verträglichkeitsprüfung darf sich nach § 34 Abs. 1 BNatSchG und Art. 6 Abs. 3 FFH-RL nicht nur auf die Auswirkungen eines – zur Genehmigung gestellten – Vorhabens selbst beschränken, sondern hat sich auch auf solche Beeinträchtigungen zu erstrecken, die sich im Zusammenwirken mit anderen Plänen und Projekten ergeben können (Summationsprüfung). Hierdurch soll sichergestellt werden, dass ein Schutzgebiet nicht durch eine schleichende Beeinträchtigung durch nacheinander genehmigte Vorhaben, die für sich nicht ins Gewicht fallen, erheblich beeinträchtigt wird. Andere Pläne und Projekte sind in die FFH-Verträglichkeitsprüfung einzubeziehen, wenn deren Auswirkungen auf die Erhaltungsziele des Schutzgebietes verlässlich absehbar sind. Das BVerwG hat klargestellt, dass die gebotene Gewissheit nicht bereits mit Einreichung eines prüffähigen Antrags gegeben sei, sondern erst mit Erteilung der Zulassungsentscheidung der anderen Pläne und Projekte. Dementsprechend dürfen später beantrage, aber inzwischen genehmigte Vorhaben nicht unberücksichtigt bleiben. Eine Vorrangstellung oder Privilegierung zeitlich zuerst beantragter Vorhaben besteht insoweit nicht.
Abschneidekriterium
Das BVerwG hat klargestellt, dass der projektbezogene Abschneidewert für Vorhabenbezogene Zusatzbelastungen durch eutrophierende Stickstoffeinträge bei 0,3 kg N/ha*a (= 0,3 kg Stickstoff pro Hektar pro Jahr) liegt und dieser Wert auch im Hinblick auf Summationswirkungen mehrerer Vorhaben keiner Korrektur bedarf.
Die Bewertung von Stickstoffbelastungen erfolgt im Rahmen der FFH-Verträglichkeitsprüfung mit Hilfe von Critical Loads und eines Abschneidewerts in Höhe von 0,3 kg N/ha*a. Das Abschneidekriterium dient der Bestimmung des Einwirkungsbereichs einer geplanten Anlage und damit des Untersuchungsraums und -umfangs der FFH-Verträglichkeitsprüfung. Zugleich werden hierdurch die in die Summationsbetrachtung einzubeziehenden Vorhaben bestimmt. Unterschreitet der Stickstoffeintrag eines beantragten Vorhabens den Abschneidewert in Höhe von 0,3 kg N/ha*a, ist davon auszugehen, dass das FFH-Gebiet in seinen für die Erhaltungsziele oder den Schutzzweck maßgebenden Bestandteilen nicht erheblich beeinträchtigt wird.
Dies folgt daraus, dass unterhalb dieser Grenze die zusätzliche von einem Vorhaben ausgehende Belastung nicht mehr mit vertretbarer Genauigkeit bestimmbar bzw. nicht mehr eindeutig von den Hintergrundbelastungen abgrenzbar ist. Deshalb ist es auch nicht gerechtfertigt, den Abschneidewert von 0,3 kg N/ha*a für eutrophierende Stickstoffeinträge im Hinblick auf Summationswirkungen mehrerer Vorhaben niedriger festzusetzen. Die Verträglichkeitsprüfung nach § 34 Abs. 1 BNatSchG und Art. 6 Abs. 3 S. 1 FFH-RL knüpft an die Eignung eines Projekts oder Plans an, das Natura-2000-Gebiet zu beeinträchtigen. Es bedarf zwar insoweit nicht des Nachweises eines ursächlichen Zusammenhangs zwischen dem Projekt oder Plan und der erheblichen Beeinträchtigung der Erhaltungsziele, allerdings muss eine gewisse Wahrscheinlichkeit einer solchen Störung gegeben („nachweisbar“) sein. Rein theoretische Besorgnisse sind daher nicht zu berücksichtigen. Denn solange sich nicht klären lässt, ob, und wenn ja, in welcher Höhe, Einträge überhaupt existieren und welchen Quellen sie entstammen, lässt sich auch keine hinreichende Wahrscheinlichkeit einer erheblichen Beeinträchtigung feststellen.
Das Abschneidekriterium ist von der 3%-Bagatellschwelle des relevanten Critical Loads (= Belastungsgrenze eines FFH-Lebensraums durch Stickstoffeinträge) zu unterscheiden. Es ist systematisch der Prüfung von Bagatellschwellen vorgelagert und unabhängig von diesen zu ermitteln. Erst wenn der Stickstoffeintrag eines Vorhabens den Abschneidewert von 0,3 kg N/ha*a überschreitet, also nachweisbar ist, ist in einem zweiten Schritt zu prüfen, ob dieser Belastungsbeitrag ins Gewicht fällt oder als FFH-verträgliche Bagatelle hinzunehmen ist.
Mehrfaches Ausnutzen der Bagatellgrenze
Das BVerwG hat weiterhin festgestellt, dass die 3%-Bagatellschwelle nicht im Sinne einer Kontingentierung nur einmal ausgeschöpft werden kann. Denn auch bei mehrfacher Inanspruchnahme der Bagatellschwelle sind erhebliche Beeinträchtigungen nicht zwangsläufig die Folge. Wie bereits ausgeführt, knüpft die FFH-Verträglichkeitsprüfung an die Eignung eines Projekts oder Plans an, das Natura-2000-Gebiet zu beeinträchtigen. Ein Plan oder Projekt kann nach § 34 Abs. 2 BNatSchG, Art. 6 Abs. 3 S. 2 FFH-RL nur zugelassen werden, wenn unter Berücksichtigung der besten einschlägigen wissenschaftlichen Erkenntnisse kein vernünftiger Zweifel daran besteht, dass sich der Plan oder das Projekt auch im Zusammenwirken mit anderen Plänen oder Projekten nicht nachteilig auf das Gebiet als solches auswirkt. Dieses Prüfprogramm erfordert weder zwingend eine starre Kontingentierung der 3 %-Bagatellschwelle noch eine Rückbeziehung der Summationsprüfung auf den Zeitpunkt der Unterschutzstellung. Denn auch nach Ausnutzen der Bagatellschwelle von 3 % des relevanten Critical Loads durch ein oder mehrere nach Unterschutzstellung des FFH-Gebiets genehmigte und realisierte Vorhaben muss sich die Belastungssituation nicht zwangsläufig verstetigen oder gar verschlechtern; sie kann sich aufgrund bestimmter globaler und regional wirkender Maßnahmen auch verbessern. Der Senat lässt jedoch ungeklärt, ob die mehrfache Ausnutzung der 3%-Bagatellschwelle grenzenlos möglich ist oder ob nicht doch – und wenn ja, ab wann – eine Grenze zu ziehen ist.
Praxishinweise
Das Urteil des BVerwG schafft für Vorhabenträger Klarheit hinsichtlich der kumulativ zu berücksichtigenden (Dritt-)Vorhaben sowie der Bewertung von Stickstoffbelastungen im Rahmen der FFH-Verträglichkeitsprüfung. Die Entscheidung ist insbesondere für kleinere Vorhaben begrüßenswert, indem das Gericht die Berücksichtigung nur genehmigter Vorhaben verlangt. Für Großprojekte bedeutet dies jedoch, dass diese durch „schnellere“, kleinere Projekte im Laufe des aufwendigen Genehmigungsverfahrens „ausgebremst“ werden können, wenn durch die „überholenden“, kleineren Projekte die Belastungsgrenze des FFH-Lebensraums ausgeschöpft wird. Die Genehmigungsfähigkeit von Großprojekten wird damit nochmal deutlich erschwert.
(BVerwG, Urteil vom 15. Mai 2019 – 7 C 27.17)
Katharina Fruth, Rechtsanwältin
München