Lesen bildet - aber wer soll‘s bezahlen?
Lesen bildet - aber wer soll‘s bezahlen?
Darf eine Universität ihren Studenten Auszüge von Büchern einscannen und digital zur Verfügung stellen? Das Urheberrechtsgesetz (§ 52a) erlaubt das in gewissem Umfang. Was genau geht und was nicht, hat das Oberlandesgericht Stuttgart nun entschieden.
Die beklagte Fernuniversität Hagen scannt Auszüge des 2007 im Verlag Alfred Kröner erschienenen, für EUR 25,-- im Handel erhältlichen Buches "Meilensteine der Psychologie" und stellt sie Studenten in digitaler Form auf ihrer Lernplattform "Moodle" zur Verfügung. Die Studenten können thematisch in sich abgeschlossene Abschnitte des Buches mit dem Adobe-Flashplayer laden und ausdrucken. Ursprünglich, vor Erhalt einer Abmahnung des Verlages, konnten die Texte auch als pdf geladen und gespeichert, vervielfältigt und verbreitet werden. Der Verlag hält all diese Verwertungen für rechtswidrig, die Universität beruft sich auf § 52a Abs. 1 Nr.1 UrhG. Die Vorschrift erlaubt das halb-öffentliche, nämlich auf die betroffenen Studenten beschränkte Zugänglich-Machen „kleiner Teile" urheberrechtlich geschützter Werke „zur Veranschaulichung im Unterricht".
Diese Vorschrift wirft eine Reihe interessanter, schwierig zu beantwortender Fragen auf. Was sind "kleine Teile eines Werkes", was bedeutet Öffentlich-Zugänglich-Machen "zur Veranschaulichung im Unterricht", was ist "zu diesem Zweck geboten" und "zur Verfolgung nicht kommerzieller Zwecke gerechtfertigt"? Welche Rolle spielen die Grundrechte, welche der im internationalen Recht geltende, auch vom deutschen Gesetzgeber und Richter zu beachtende Drei-Stufen-Test, wonach Schranken des Urheberrechts ihrerseits mit Rücksicht auf Interessen des Urhebers beschränkt sind?
Das Oberlandesgericht gibt der Klage statt, in weiterem Umfang als das LG. Was "kleine Teile" seien, lasse sich nicht schematisch anhand von Prozentsätzen bestimmen - das Landgericht hatte 10% erlaubt -, sondern müsse inhaltlich beurteilt werden. Hier falle zu Lasten der Universität bei Anwendung des Drei-Stufen-Tests ins Gewicht, dass die einzelnen, in sich geschlossenen Abschnitte - nämlich die Darstellung einzelner "Meilensteine", d.h. bedeutender Beiträge historischer Autoren - Teile eines Gesamtkonzeptes seien, gewissermaßen kleine Werke an sich, nicht kleine Teile eines Werkes. Eine Verwertung zur Veranschaulichung im Unterricht liege auch nicht vor. Die einzelnen Werkteile ergänzten und vertieften den Unterrichtsstoff vielmehr. Was zum Zweck der Veranschaulichung geboten sei, dürfe nicht dem Hochschullehrer überlassen bleiben - der dies im Streitfall für seinen Stand reklamierte, was den Senat vielleicht geärgert, jedenfalls zur gewissenhaften Darstellung der betroffenen Lehrinhalte von Sokrates über Hume bis zu Pawlow und Dilthey bewogen hat -, sondern müsse im Streitfall vom Gericht entschieden werden. Grundrechte würden dadurch nicht verletzt, weil Informations- und Wissenschaftsfreiheit einerseits, Urheberrecht als Verfassungseigentum andererseits auf einer Stufe stünden. Anschlußnutzungen durch die Studenten - das Ausdrucken, vom LG noch für zulässig gehalten, und das ursprünglich mögliche Weiterleiten als pdf - seien durch die zugunsten der Universität nach § 52a UrhG bestehenden Schranken der Verwertungsrechte des Verlages aus §§ 16, 19a nicht gedeckt.
Das Urteil ist von erheblicher praktischer Bedeutung, weil es veranschaulicht, wie schwierig eine befriedigende Lösung des charakteristischen Interessenkonfliktes - Informationsfreiheit vs. Urheberrecht - mittels der gesetzgeberischen Lösung in der Praxis ist. Die Schwierigkeit dürfte darin begründet sein, dass der eigentliche Streitstoff weit über § 52a UrhG hinausreicht. Ein Konflikt zwischen Informations-, Wissenserwerbs- und -vermittlungsinteressen einerseits, Urheberinteressen andererseits besteht gar nicht unmittelbar, weil das Urheberrecht Lektüreempfehlungen, Lesen, Vorlesen, Diskussion, Denken und Verstehen, alles also, was zu Wissenserwerb führt, nicht verbietet, während auf der anderen Seite die dem Urheber vorbehaltenden Verwertungshandlungen, das Kopieren, digitale Verarbeiten, Ausdrucken oder Weiterverbreiten, niemanden bilden. Der Konflikt besteht auf Ebene der Preise für die Datenträger, hier Bücher, und dort nach Maßgabe der ökonomischen Prioritäten der Lehrer und Leser, deren rechtliches Gewicht wieder vom Wettbewerb und den Preisbildungsmechanismen im Verlagswesen abhängt. Urheberrechtlich ist der Fall im Ausgangspunkt einfach zu entscheiden. Wer Bücher, die andere geschrieben und verlegt haben, für die Ausbildung braucht, muß sie vor Ablauf der Schutzfrist kaufen, oder leihen. Dass Universitäten kein Geld für angemessen eingepreiste Bücher haben und Studenten es dafür nicht ausgeben wollen, ist mit § 52a und den Mitteln des geltenden Urheberrechts nicht zu erfassen, geschweige denn zu ändern.
Das Urteil ist nicht rechtskräftig. Der Senat hat wegen der grundsätzlichen Bedeutung die Revision zum Bundesgerichtshof zugelassen, sie ist dort zum Az. I ZR 79/12 anhängig. Beim BGH liegt bereits die einen ähnlichen Sachverhalt betreffende - es geht um die Zulässigkeit elektronischer Leseplätze in Bibliotheken - Sprungrevision gegen das Urteil des LG Frankfurt 6 O 378/10 (Az. I ZR 69/11).
(OLG Stuttgart, Urteil vom 4.4.2012 - 4 U 171/11)
Dr. Kristofer Bott, Rechtsanwalt und Fachanwalt für Gewerblichen Rechtsschutz