Nachträgliche Änderung einer Auswahlrichtlinie
Betriebsparteien können auch im Nachhinein noch Änderungen bei einer Auswahlrichtlinie vornehmen. Dies hat das Bundesarbeitsgericht in einer kürzlich ergangenen Entscheidung klargestellt.
In größeren Unternehmen sind Auswahlrichtlinien nach § 95 Abs. 1 BetrVG hinsichtlich der personellen Strukturen der Mitarbeiter üblich. Eine große Rolle spielen solche Auswahlrichtlinien nicht zuletzt im Rahmen von Kündigungen. Bei Betriebsänderungen, also nach § 111 BetrVG insbesondere bei Einschränkungen und Stilllegungen des ganzen Betriebes oder Betriebsteilen, ist der Arbeitgeber verpflichtet, mit dem Betriebsrat zusammenzuarbeiten und nach § 112 BetrVG einen Interessenausgleich und Sozialplan zumindest zu verhandeln. Wenn im Rahmen dessen dann ein Punkteschema vereinbart wird, welches die Arbeitnehmer „kategorisiert“ und welches als Grundlage betriebsbedingter Kündigungen dient, handelt es sich auch dabei auch um eine Auswahlrichtlinie im Sinne des § 95 BetrVG.
Wie verbindlich und endgültig sind solche Auswahlrichtlinien bzw. solche Punkteschemata? Zunächst sagt § 1 Abs. 5 KSchG dazu aus, dass solche Richtlinien in einem Kündigungsschutzverfahren nur auf grobe Fehlerhaftigkeit überprüft werden können. Ähnlich regelt dies § 125 InsO für den Sonderfall eines Insolvenzverfahrens. Das heißt, dass eine Abweichung davon oder eine Überprüfung nur in höchst eingeschränktem Maße möglich ist.
Über eine solche Konstellation hatte kürzlich das Bundesarbeitsgericht zu entscheiden (AZ: 6 AZR 854/11). Hintergrund dessen war, dass in einem laufenden Insolvenzverfahren der Insolvenzverwalter mit dem Betriebsrat einen Interessenausgleich abgeschlossen hatte, der nicht nur eine Auswahlrichtlinie, sondern gleichzeitig auch eine Namensliste der zu kündigenden Arbeitnehmer aufwies. Obwohl der Kläger „bessere“ Sozialdaten als ein anderer Arbeitnehmer hatte, der im Übrigen derselben Vergleichs- und Altersgruppe zugeordnet war, wurde der Kläger in der Namensliste genannt. Letztlich wurde aus der Vergleichs- und Altersgruppe des Klägers dann nur dieser ordentlich betriebsbedingt gekündigt. Der Kläger wandte sich dagegen und argumentierte, dass entsprechend dem Punkteschema nicht er, sondern der andere Arbeitnehmer gekündigt werden müsste. Der Kläger führte aus, dass ein über die Auswahlrichtlinien hinausgehender Beurteilungsspielraum dem Arbeitgeber nicht eingeräumt wäre. Auch wenn § 1 Abs. 5 KSchG und § 125 InsO explizit festhalten würden, dass die Namensliste eine Kündigung durch dringende betriebliche Erfordernisse rechtfertige, berief sich der Kläger auf § 1 Abs. 5 KSchG und rügte die grobe Fehlerhaftigkeit der Sozialauswahl. Denn, so die Argumentation, die Namensliste hätte ja die Auswahlrichtlinie nicht entsprechend den Vorgaben umgesetzt.
Dieser Argumentation folgend und aus dem Gesetzestext zunächst auch logisch, entschieden die Instanzgerichte zugunsten des Klägers.
Das Bundesarbeitsgericht wandte sich jedoch dagegen und folgte einer arbeitgeberfreundlichen Argumentation: Es entschied, dass die Arbeitgeber und Betriebsräte Auswahlrichtlinien wie die hier vorliegende im Sinne von § 1 Abs. 4 KSchG durchaus auch später, etwa eben bei Abfassung einer Namensliste, ändern können. Wenn sich beide Betriebsparteien gemeinsam über die Auswahlrichtlinien hinwegsetzen, sei dies gleichbedeutend mit einer Modifizierung und führe nicht wie gerügt zu einer grob fehlerhaften Sozialauswahl. Für diese sicherlich überraschendere Entscheidung liegt noch keine Begründung vor, auch sie besitzt aber eine eigene Logik, da eben in der Namensliste übereinstimmend von den Betriebsparteien von der Auswahlrichtlinie abgewichen wurde und werden kann.
Dies bedeutet für die Betriebsparteien zumindest die Möglichkeit, auch im Nachhinein punktuelle Änderungen der Auswahlrichtlinie vorzunehmen, sollte sich dies als erforderlich erweisen. Inwieweit dies allerdings tatsächlich in größerem Rahmen gerichtsfest angewendet werden kann, bleibt abzuwarten.
(BAG, Urteil vom 24. Oktober 2013 – 6 AZR 854/11)
Dr. Holger Kühl, Rechtsanwalt