Schnelle Beschaffung zur Eindämmung des Coronavirus: Verhandlungsverfahren ohne Teilnahmewettbewerb
- Kann ich meinen dringenden Bedarf, z.B. von medizinischem Zubehör (Atemschutzmasken, Desinfektionsmittel) und Geräten (Beatmungsgeräte, Krankenhausbetten), schnell decken, auch wenn ich das Vergaberecht beachten muss?
- Gilt dies auch für Bauaufträge, z.B. der Umbau von Hotels zu Krankenstationen?
Das neuartige Coronavirus (CoVid-19) verbreitet sich viel schneller als befürchtet. Die öffentliche Hand, insbesondere Kliniken und Krankenhäuser müssen so schnell wie möglich Medizinprodukte und Medizingeräte beschaffen. Das Vergaberecht bietet verschiedene Möglichkeiten, die Beschaffung vergaberechtskonform und schnell durchzuführen. Nachfolgend wird die Möglichkeit behandelt, im Verhandlungsverfahren ohne Teilnahmewettbewerb zu vergeben. Weitere Möglichkeiten (Verkürzung der Frist im offenen Verfahren auf 15 Kalendertage, Interimsvergaben) werden in anderen Beiträgen behandelt.
Verhandlungsverfahren bei „Corona-Aufträgen“ oberhalb der Schwellenwerte
Die Vergabe von Aufträgen im Verhandlungsverfahren ist nach § 14 Abs. 4 Nr. 3 VgV ohne Teilnahmewettbewerb zulässig, wenn
„äußerst dringliche, zwingende Gründe im Zusammenhang mit Ereignissen, die der betreffende öffentliche Auftraggeber nicht voraussehen konnte, es nicht zulassen, die Mindestfristen einzuhalten, die für das offene und das nicht offene Verfahren sowie für das Verhandlungsverfahren mit Teilnahmewettbewerb vorgeschrieben sind“
Hieraus folgen drei Voraussetzungen, die nach ständiger Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs kumulativ vorliegen müssen:
- ein unvorhergesehenes und unvorhersehbares Ereignis muss vorliegen
- äußerst dringliche und zwingende Gründe müssen gegeben sein, die die Einhaltung der in anderen Verfahren vorgeschriebenen Fristen unmöglich machen
- schließlich muss ein Ursachenzusammenhang zwischen der dem unvorhergesehenen Ereignis und den dringlichen Gründen/Unmöglichkeit der Einhaltung der vorgeschriebenen Frist bestehen
Die Voraussetzungen dieses Ausnahmetatbestands sind restriktiv auszulegen. Entscheidend sind die Umstände des Einzelfalls. Zwei prominente Beispiele der jüngeren Geschichte führten zur einhelligen Annahme des Vorliegens eines unvorhersehbaren Ereignisses in Rechtsprechung und Literatur:
- die weltweite Finanzkrise 2008/09
- die Flüchtlingskrise 2015
Die Herausforderungen, mit denen sich der Staat mit der rapiden Ausbreitung des Coronavirus konfrontiert sieht und die bereits jetzt getroffenen Maßnahmen zur Eindämmung bzw. Verlangsamung der Pandemie, sind mit diesen beiden gesellschaftlichen Krisen vergleichbar bzw. übersteigen diese sogar. Dementsprechend können öffentliche Auftraggeber diese Voraussetzung als gegeben ansehen.
Auch bei der Prüfung der Voraussetzung der äußersten Dringlichkeit ist ein strenger Maßstab anzulegen. Sie setzt eine andernfalls drohende gravierende Beeinträchtigung für die Allgemeinheit und die staatliche Aufgabenerfüllung voraus. In hierfür erforderlichen Abwägungsprozess ist die Bedeutung des bedrohten Rechtsguts zu berücksichtigen (hier: Gesundheit der Bevölkerung) und ferner einzubeziehen, welche Folgen die maximal zulässige Fristkürzung hätte. Dringende und unaufschiebbare, dem betreffenden öffentlichen Auftraggeber verpflichtend zugewiesene Liefer- und Dienstleistungen der Daseinsvorsorge (wie etwa bei Krankentransporten, Schülerfreistellungsverkehren, BSE-Tests, Flüchtlingsunterbringungen oder der Krankenhausversorgung mit Wäsche) genießen daher auch vergaberechtlich besondere Priorität.
Die Beschaffung von Beatmungsgeräten, Atemschutzmasken, zusätzlichen Krankenbetten oder ggf. erforderlicher Labor- und Messgeräte im Rahmen eines Verhandlungsverfahrens ohne Teilnahmewettbewerb kann nach umfassender Prüfung des Einzelfalls rechtssicher zu begründen sein. Die Begründung ist in der Vergabeakte zu dokumentieren.
Verhandlungsverfahren/ freihändige Vergabe bei „Corona-Aufträgen“ im Unterschwellenbereich
Die Zulässigkeit der Durchführung eines Verhandlungsverfahren ohne Teilnahmewettbewerb in Dringlichkeitsfällen richtet sich für die Beschaffung von Liefer- und Dienstleistungen unterhalb der Schwellenwerte nach der Regelung des § 8 Abs. 4 S. 1 Nr. 9 UVgO. Die freihändige Vergabe von Bauaufträgen im Unterschwellenbereich nach § 3a Abs. 3 S. 1 VOB/A.
Die Auslegung beider Vorschriften richtet sich aufgrund des zum § 14 Abs. 4 Nr. 3 VgV ähnlichen Wortlauts ebenfalls nach den oben ausgeführten Wertungen. Auch hier ein Auftrag darf ohne vorherigen Teilnahmewettbewerb sofort ohne Beachtung irgendwelcher Fristen im Wege der Verhandlungsvergabe nur vergeben werden, wenn es um besonders hochrangige Rechtsgüter (Leben, körperliche Unversehrtheit, hohe Vermögenswerte, existentielle Daseinsvorsorge) geht und deren Beeinträchtigung unmittelbar (d.h. mit hoher Wahrscheinlichkeit in allernächster Zeit) bevorsteht bzw. schon eingetreten ist. Es wird daher auf die dort gemachten Ausführungen verwiesen.
Aus Sicht von Krankenhäusern dürfte etwa die freihändige Vergabe von kleineren Bauaufträgen, etwa der Vornahme von baulichen Veränderungen, die zur Bewältigung der in naher Zukunft voraussichtlich stark steigenden Patientenzahlen im Zuge der CoVid-19-Pandemie erforderlich werden, in Betracht kommen. Hierbei bedarf es allerdings ebenso wie in den vorgenannten Fällen einer umfassenden rechtlichen Prüfung des Einzelfalls.
Ablauf des Verhandlungsverfahrens ohne Teilnahmewettbewerb
Bei einem Verhandlungsverfahren ohne Teilnahmewettbewerb erfolgt nach § 17 Abs. 5 VgV keine öffentliche Aufforderung zur Abgabe von Teilnahmeanträgen, sondern unmittelbar eine Aufforderung zur Abgabe von Erstangeboten an die vom öffentlichen Auftraggeber ausgewählten Unternehmen. Zwar müsste der öffentliche Auftraggeber gem. § 17 Abs. 6 VgV grundsätzlich eine Frist von 30 Tagen zur Angebotsabgabe gewähren. Allerdings kann der Auftraggeber für den Fall, dass eine hinreichend begründete Dringlichkeit die Einhaltung der Angebotsfrist gemäß Absatz 6 unmöglich macht, eine verkürzte Frist zur Angebotsabgabe festlegen, die mindestens 10 Tage beträgt.
Darüber hinaus kann der öffentliche Auftraggeber gem. § 17 Abs. 7 VgV die Angebotsfrist mit den Bewerbern, die zur Angebotsabgabe aufgefordert werden, im gegenseitigen Einvernehmen festlegen, sofern allen Bewerbern dieselbe Frist für die Einreichung der Angebote gewährt wird. Es gibt dann keine Untergrenze, die nicht unterschritten werden dürfte; es kann somit auch eine Frist von unter zehn Tagen vereinbart werden.
Der öffentliche Auftraggeber kann den Auftrag gem. § 17 Abs. 11 VgV auf der Grundlage der Erstangebote vergeben, ohne in Verhandlungen einzutreten, wenn er sich in der Auftragsbekanntmachung oder in der Aufforderung zur Interessensbestätigung diese Möglichkeit vorbehalten hat. Daraus folgt, dass sowohl Auswahlentscheidung, als auch Zuschlagerteilung unmittelbar nach Ablauf der Frist zur Angebotsabgabe erfolgen können.
Zudem entfällt die Informationspflicht gegenüber anderen Bietern gem. § 134 Abs. 3 S.1 GWB in Fällen des Verhandlungsverfahrens ohne Teilnahmewettbewerb wegen besonderer Dringlichkeit i.S.d. § 14 Abs. 4 Nr. 3 VgV, § 3a Abs. 3 S.1 Nr. 1 VOB/A, § 8 Abs. 4 Nr. 9 UVgO. Der öffentliche Auftraggeber kann dann den Auftrag auf der Grundlage der Erstangebote vergeben, ohne in Verhandlungen einzutreten, wenn er sich in der Auftragsbekanntmachung oder in der Aufforderung zur Interessensbestätigung diese Möglichkeit vorbehalten hat.
Somit wäre im Bedarfsfall die vollständige Durchführung eines Vergabeverfahrens von der Auftragsbekanntmachung bis zur Zuschlagserteilung in weniger als 10 Tagen möglich.
Dr. Bettina Meyer-Hofmann