Juni 2020 Blog

Das neue Sozial­schutz-Paket II

Nach dem ersten Sozialschutz-Paket im März 2020, mit dem der Zugang zu Sozialleistungen erleichtert wurde, hat der Bundestag im Mai 2020 das zweite Sozialschutz-Paket beschlossen (BGBl. I S. 1055 ff.). Das „Gesetz zu sozialen Maßnahmen zur Bekämpfung der Corona-Pandemie“ (Sozialschutz-Paket II) trat am 29. Mai 2020 in Kraft und bewirkt im Wesentlichen folgende (befristete) Änderungen im Bereich des Arbeits- und Sozialrechts:

  • Erhöhung des Kurzarbeitergeldes ab dem vierten bzw. siebten Bezugsmonat
  • Erweiterte Möglichkeiten beim Hinzuverdienst für Kurzarbeiter
  • Verlängerung der Anspruchsdauer beim Arbeitslosengeld
  • Ausbau der Möglichkeiten zu Videokonferenzen in der Arbeits- und Sozialgerichtsbarkeit

Gestaffelte Erhöhung des Kurzarbeitergeldes nach längerer Bezugsdauer

Nach bisheriger Regelung betrug das Kurzarbeitergeld einheitlich 60 % (mit Kindern 67 %) des Lohnausfalls. Aufgrund der neuen Regelung gilt:

  • Ab dem vierten Bezugsmonat – gerechnet ab März 2020 – erhöht sich das Kurzarbeitergeld auf 70 % (mit Kindern 77 %) des Lohnausfalls, sofern die Arbeitszeit um mindestens 50 % reduziert ist.
  • Unter den gleichen Voraussetzungen steigt das Kurzarbeitergeld ab dem siebten Bezugsmonat auf 80 % (mit Kindern 87 %) des Lohnausfalls.

Demnach erhalten Arbeitnehmer, die seit März 2020 in Kurzarbeit sind (und deren Arbeitszeit um mindestens 50 % reduziert ist), bereits ab Juni 2020 das erhöhte Kurzarbeitergeld. Arbeitnehmer, deren Arbeitszeit (zukünftig) um weniger als 50 % reduziert ist, sind von der neuen Regelung ausgenommen und erhalten weiterhin Kurzarbeitergeld in Höhe von 60 bzw. 67 % des Lohnausfalls.

Die Regelung ist befristet bis längstens zum 31. Dezember 2020. Demnach erhalten Arbeitnehmer, die im Januar 2021 weiterhin in Kurzarbeit sind, nach aktueller Gesetzeslage wieder Kurzarbeitergeld in Höhe von 60 bzw. 67 % des Lohnausfalls. Die befristete Erhöhung des Kurzarbeitergeldes erfolgt durch Einfügung eines entsprechenden Absatzes 2 in § 421c SGB III.

Ausweitung der Hinzuverdienstmöglichkeiten für Kurzarbeiter

Zusätzlich zu der Erhöhung des Kurzarbeitergeldes weitet das neue Sozialschutz-Paket die Hinzuverdienstmöglichkeiten für Arbeitnehmer in Kurzarbeit aus. Grundsätzlich sieht § 106 Abs. 3 SGB III vor, dass der Verdienst aus einer weiteren Beschäftigung auf das Kurzarbeitergeld angerechnet wird. Durch das erste Sozialschutz-Paket im März 2020 wurde mit § 421c SGB III hierfür eine Ausnahmeregelung geschaffen. Seitdem schied eine Anrechnung aus, wenn der Hinzuverdienst aus einer Beschäftigung in sog. „systemrelevanten Branchen und Berufen“ (medizinisches Personal, Landwirtschaft, Lebensmittelversorgung etc.) resultierte.

Die Beschränkung auf systemrelevante Branchen und Berufe wurde mit dem neuen Sozialschutz-Paket aufgehoben. Von Kurzarbeit betroffene Arbeitnehmer können fortan – bis zur Höhe ihres bisherigen Monatseinkommens – in allen Branchen und Berufen hinzuverdienen, ohne eine Kürzung des Kurzarbeitergeldes befürchten zu müssen. Die zeitliche Höchstgrenze der befristeten anrechnungsfreien Hinzuverdienstmöglichkeiten wurde gleichzeitig vom 31. Oktober 2020 auf den 31. Dezember 2020 angehoben.

Arbeitnehmer sollten hierbei Wettbewerbsverbote berücksichtigen, die während der Kurzarbeit unverändert bestehen. Ebenso ist ein etwaig vertraglich vereinbarter Zustimmungsvorbehalt des Arbeitgebers vor der Aufnahme einer Nebentätigkeit zu beachten.

Verlängerung der Anspruchsdauer beim Arbeitslosengeld

Arbeitnehmer, deren Anspruch auf Arbeitslosengeld in der Zeit vom 1. Mai bis 31. Dezember 2020 enden würde, erhalten bis zu drei Monate länger Arbeitslosengeld. Hintergrund ist, dass der Gesetzgeber aufgrund der aktuellen wirtschaftlichen Lage von einer zeitintensiveren Jobsuche ausgeht. Die Regelung erfolgt durch die Einfügung eines neuen § 421d SGB III.

Ausbau der Möglichkeiten zu Videokonferenzen in der Arbeitsgerichtsbarkeit

Durch die Einfügung eines neuen § 114 ArbGG wurden die (rechtlichen) Einsatzmöglichkeiten von Videokonferenzen in der Arbeitsgerichtsbarkeit erweitert. Die Regelung ist befristet und gilt bis zum 31. Dezember 2020.

Bereits zuvor waren „Verhandlungen im Wege der Bild- und Tonübertragung“ in der Arbeitsgerichtsbarkeit nach § 128a ZPO für Parteien, Bevollmächtigte und Beistände (sowie Zeugen und Sachverständige) möglich. Durch die neue Regelung kann das Gericht nun auch ehrenamtlichen Richtern gestatten, an einer mündlichen Verhandlung per Videokonferenz teilzunehmen. Voraussetzung hierfür ist, dass eine „epidemische Lage von nationaler Tragweite nach § 5 Absatz 1 Satz 1 des Infektionsschutzgesetzes“ vorliegt, aufgrund dieser es dem ehrenamtlichen Richter „unzumutbar“ ist, vor Ort an der mündlichen Verhandlung teilzunehmen. Mit der neuen Regelung ist es ehrenamtlichen Richtern nun auch unter den gleichen Voraussetzungen möglich, per Videokonferenz an Beratungen, Abstimmungen sowie Verkündungen teilzunehmen. Die „epidemische Lage“ wird vom Deutschen Bundestag festgestellt (§ 5 Abs. 1 IfSG). Dies ist am 25. März 2020 geschehen.

Darüber hinaus enthält § 114 Abs. 3 ArbGG die Vorgabe, dass das Gericht den Parteien, Bevollmächtigten und Beiständen (sowie Zeugen und Sachverständigen) bei einer „epidemischen Lage von nationaler Tragweite nach § 5 Absatz 1 Satz 1 des Infektionsschutzgesetzes“ bereits von Amts wegen gestatten soll, an mündlichen Verhandlungen per Videokonferenz teilnehmen zu können. Eine Pflicht zur Teilnahme mittels Videokonferenz besteht allerdings nicht.

Nahezu wortlautgleiche Regelungen wurden mit § 211 SGG für die Sozialgerichtsbarkeit (befristet bis zum 31. Dezember 2020) eingeführt.

Im Zuge des zweiten Sozialschutz-Pakets wurden durch ein weiteres Gesetz (BGBl. I S. 1044 ff.) die (ebenfalls befristeten) gesetzlichen Grundlagen für den Einsatz von Videokonferenzen für Betriebsräte geschaffen. Gem. § 129 BetrVG können Betriebsratssitzungen mittels Video- und Telefonkonferenz erfolgen, wenn sichergestellt ist, dass Dritte vom Inhalt der Sitzung keine Kenntnis nehmen können. Unter den gleichen Voraussetzungen können Betriebsversammlungen per Videokonferenz durchgeführt werden. Diese Regelung gilt rückwirkend zum 1. März 2020, sodass seitdem im Wege von Video- und Telefonkonferenzen gefasste Beschlüsse nicht allein aufgrund dessen unwirksam sind. Die Regelung gilt ebenfalls bis zum 31. Dezember 2020.

Auswirkungen des erhöhten Kurzarbeitergeldes auf die unternehmerische Praxis

Unternehmen, in deren Betrieben aufgrund der Kurzarbeitergeldverordnung (KugV) bereits zum 1. März 2020 Kurzarbeit eingeführt wurde und in denen weiterhin Kurzarbeit mit mindestens 50 % reduzierter Arbeitszeit angeordnet ist, müssen sich bereits bei der Gehaltszahlung für Juni 2020 auf höhere Vorauszahlungen beim Kurzarbeitergeld einstellen.
Die gesetzliche Erhöhung des Kurzarbeitergeldes kann sich darüber hinaus insbesondere auf sog. Aufstockungsbeträge auswirken, die von Arbeitgebern (in der Regel auf Grundlage einer Betriebsvereinbarung) zusätzlich zum Kurzarbeitergeld gezahlt werden. Im Folgenden werden mögliche Auswirkungen der gesetzlichen Kurzarbeitergelderhöhung auf unterschiedliche Aufstockungsregelungen dargestellt.

Aufstockung des Kurzarbeitergeldes auf bis zu einen pauschalen (prozentualen) Betrag des ursprünglichen Nettoentgelts

Leisten Arbeitgeber Zuzahlungen zum Kurzarbeitergeld bis zu einem bestimmten pauschalen Betrag (z. B. „Aufstockung auf bis zu 80 % des ursprünglichen Nettoentgelts“), profitiert (auch) der Arbeitgeber von der gesetzlichen Erhöhung des Kurzarbeitergeldes, da sich die vom ihm zu zahlende Differenz entsprechend verringert. Wird der ursprünglich vereinbarte Betrag vollständig durch das Kurzarbeitergeld erreicht, entfällt die Zuzahlungspflicht des Arbeitgebers vollständig. Nach aktueller Gesetzeslage würde die Zuzahlungspflicht sodann ab dem 1. Januar 2021 wieder eintreten.

Aufstockung des Kurzarbeitergeldes in Höhe eines prozentualen Anteils vom Kurzarbeitergeld

Vorsicht ist bei Vereinbarungen geboten, die prozentual direkt an das Kurzarbeitergeld anknüpfen. Durch eine Erhöhung des Kurzarbeitergeldes würde sich aufgrund der prozentualen Anknüpfung auch der Zuzahlungsbetrag seitens des Arbeitgebers erhöhen. Dies könnte – jedenfalls nach dem Wortlaut – je nach Regelung zu Gehaltszahlungen führen, die (inkl. Kurzarbeitergeld) 100 % des ursprünglichen Nettoentgelts übersteigen, was faktisch einer Gehaltserhöhung gleichkäme.
Unternehmen mit entsprechenden Zuzahlungsregelungen sollten diese überprüfen. Hier kommt ggf. ein Anspruch des Arbeitgebers gegenüber dem Betriebsrat auf Anpassung der Betriebsvereinbarung nach den Grundsätzen der Störung der Geschäftsgrundlage (§ 313 BGB) in Betracht.

Sinnvoller Bezugspunkt für Aufstockungsbeträge: der Unterschiedsbetrag zum bisherigen Nettoeinkommen

Eine interessengerechte Aufstockungsregelung sollte grundsätzlich einen festen Prozentsatz des Unterschiedsbetrags zwischen ursprünglichem Nettoentgelt und tatsächlichem Nettoentgelt nach Einführung von Kurzarbeit einschließlich des Kurzarbeitergeldes vorsehen. In diesem Fall führt eine gesetzliche Erhöhung des Kurzarbeitergeldes einerseits dazu, dass sich der Aufstockungsbetrag für den Arbeitgeber verringert, andererseits aber – aus Sicht des Arbeitnehmers – nicht gänzlich wegfällt. Somit profitieren beide Parteien von einer gesetzlichen Erhöhung des Kurzarbeitergeldes. Darüber hinaus können Kappungsgrenzen vereinbart werden, die eine Aufstockung durch den Arbeitgeber (z. B. auf maximal 90 % des ursprünglichen Nettoentgelts) begrenzen.

Fazit und Bewertung für die unternehmerische Praxis

Die Erhöhung des Kurzarbeitergeldes sowie die umfangreicheren Hinzuverdienstmöglichkeiten durch das neue Sozialschutz-Paket können finanzielle Einbußen bei Arbeitnehmern in Kurzarbeit teilweise abmildern. Gleichzeitig können sich die Aufstockungsbeträge seitens der Unternehmen aufgrund der Erhöhung des Kurzarbeitergeldes verringern. Andererseits sind primär die Arbeitnehmer und Arbeitgeber von der neuen Regelung betroffen, die bereits seit mehreren Monaten „in Kurzarbeit sind“. Hierbei handelt es sich in erster Linie um Unternehmen, die von den wirtschaftlichen Folgen der COVID-19-Pandemie besonders schwer betroffen sind. Für Arbeitgeber, die keine Aufstockungsbeträge zum Kurzarbeitergeld zahlen (können), erhöhen sich somit dennoch die Vorauszahlungen des Kurzarbeitergeldes. Es ist somit zu hoffen, dass die Erstattung durch die Bundesagentur für Arbeit in Zukunft noch zeitnaher erfolgt.

In welchem Ausmaß die neuen Möglichkeiten zum Einsatz von Videokonferenzen in der Praxis umgesetzt werden, bleibt abzuwarten. Insbesondere auf Seiten der Gerichte scheinen die technischen Voraussetzungen vielerorts nicht vorhanden zu sein. In seiner Stellungnahme vom 15. Mai 2020 (BR-Drs. 245/20) führt der Bundesrat hierzu aus:

„Vorsorglich stellt der Bundesrat weiterhin klar, dass eine Umsetzung des mit den neuen Regelungen im Arbeits- und Sozialgerichtsgesetz verfolgten (Soll-)Regelfalls, Verhandlungen und Vernehmungen im Wege der Bild- und Tonübertragung durchzuführen, bis zum avisierten Außerkrafttreten der Regelungen in den meisten der Länder in weiten Teilen praktisch, technisch und finanziell nicht möglich sein wird. Anders als die Begründung des zugrundeliegenden Gesetzentwurfs annimmt, ist die für Videokonferenzen notwendige Ausstattung bisher nicht flächendeckend an allen Gerichten verfügbar und kann und darf auch nicht durch privat angeschaffte oder anzuschaffende Hard- und Software ersetzt werden.“

Es kann somit jedenfalls angezweifelt werden, dass der erhoffte „Digitalisierungseffekt“ im Zuge der neuen Gesetzesänderungen eintritt.

Tobias Nuxoll

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