Juli 2024 Blog

Das Streben zu mehr Nachhaltigkeit – der Gesetzgeber ist gefordert, auch im deutschen Kartellrecht?

Der Aspekt der Nachhaltigkeit gewinnt immer mehr an Bedeutung, sowohl in der deutschen und europäischen Gesetzgebung, als auch in der Entscheidungspraxis der deutschen Behörden und Gerichte. Nachhaltigkeit wird auch von Unternehmen zunehmend zur Rechtfertigung koordinativen Marktverhaltens angeführt und drängt sich auf diese Weise den kartellrechtlichen Wertungsmaßstäben auf.

Während das Bundeskartellamt („BKartA“) bereits Nachhaltigkeitsinitiativen bewertete, schweigt der deutsche Gesetzgeber im Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen („GWB“) zu der Gewichtung von Nachhaltigkeitsaspekten. Bedarf das deutsche Kartellgesetz eine Überarbeitung für mehr Rechtssicherheit, um dem wachsenden Streben zu nachhaltiger Wirtschaft gerecht zu werden? Der Wissenschaftliche Beirat beim Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz („BMWK“) beschäftigte sich erst kürzlich in einem am 5. Juni 2024 veröffentlichten Gutachten mit der Frage, inwieweit eine erweiterte Berücksichtigung von Nachhaltigkeitsaspekten im Kartellrecht erfolgen sollte – und hat eine klare Haltung.

Nachhaltigkeitsaspekte nach bisheriger Wertung des Bundeskartellamts

Das Kartellverbot nach § 1 GWB verbietet (vereinfacht gesagt) wettbewerbsbeschränkende Vereinbarungen, sofern diese nicht im Einzelfall gerechtfertigt werden können. Ob und inwieweit ein Bezug zu Nachhaltigkeit im Rahmen kartellrechtlicher Wertung zu gewichten ist, bleibt bislang jedoch einer Bewertung im konkreten Einzelfall überlassen. Nach diesem Maßstab wertet auch das BKartA, welches in der bisherigen Praxis einigen Nachhaltigkeitsinitiativen und -aspekten offen gegenüberstand.

So hatte sich das BKartA beispielsweise ab 2014 mit der Initiative Tierwohl befasst, ein Branchenbündnis aus Landwirtschaft, Fleischwirtschaft und Lebensmitteleinzelhandel. Die Initiative beabsichtigte teilnehmende Tierhalter für verbesserte Haltungsbedingungen zu honorieren, indem u.a. ein einheitlicher, verpflichtender Aufschlag („Tierwohlentgelt“) gezahlt wird. Eben dieser Aufschlag führte zu wettbewerblichen Bedenken, welche das BKartA in der Einführungsphase aufgrund des Pioniercharakters der Initiative tolerierte, andererseits aber auch eine perspektivisch wettbewerbliche Ausgestaltung der Finanzierung forderte. Zum Jahr 2024 führte die Initiative eine unverbindliche Empfehlung für eine Finanzierung der mit den Tierwohlkriterien verbundenen Mehrkosten ein. Dies begrüßte das BKartA ausdrücklich, da ein Tierwohlentgelt nicht als unerlässlich für die Durchsetzung der Initiative und die Einhaltung von Tierwohl-Kriterien erscheine. Dafür sprach die zwischenzeitliche Etablierung der Initiative und der Existenz von Konkurrenzlabeln ohne verbindliche Preiselemente.

Wie auch in weiteren Fallgestaltungen zeigte das BKartA eine flexible Einstellung in der Berücksichtigung von Nachhaltigkeitsaspekten im Zusammenhang mit wettbewerbsbeschränkenden Kooperationen, beobachtet dabei aber die Entwicklung im Einzelfall. Eine klare Grenze ziehen die Wettbewerbshüter bei wettbewerbsrelevanten Themen wie Preise und Konditionen und dahingehenden Absprachen ohne konkreten Bezug zu oder nur unter dem Vorwand der Nachhaltigkeit. Das BKartA besteht auf ein Erreichen von Nachhaltigkeitszielen im Einklang mit dem Wettbewerb und den kartellrechtlichen Rahmenbedingungen. Kurzum: Der Zweck der Nachhaltigkeit heiligt nicht zwingend das Mittel der Wettbewerbsbeschränkung – der Einzelfall ist entscheidend.

Politische Initiativen zu einem nachhaltigeren Kartellrecht

Im Jahr 2020 stellte die Europäische Kommission mit dem „European Green Deal“ eine Wachstumsstrategie vor, die insbesondere eine nachhaltige Wirtschaft anstrebt. Das Ziel der Nachhaltigkeit ist in der wirtschaftspolitischen Entwicklung inzwischen fest verankert und wird konsequent gefördert und gefordert. Mehr Rechtssicherheit beim Thema Nachhaltigkeit im Kartellrecht strebt auch das BMWK in seiner wettbewerbspolitischen Agenda bis 2025 an. Mit Blick auf die anstehende 12. GWB-Novelle veranlasste es Ende 2023 eine öffentliche Konsultation, unter anderem zur Prüfung, ob und wie das Kartellrecht angepasst werden könnte, um einen klaren Rechtsrahmen für Nachhaltigkeitskooperationen zu bieten, ohne dabei ein sog. „Greenwashing“ von Kartellen oder andere Formen verkappter Beschränkungen von Wettbewerb zu erleichtern. Die Rückmeldungen aus den verschiedensten Bereichen (Unternehmen verschiedener Branchen, Privatpersonen, Wirtschaftsverbände, Kanzleien, NGOs, Forschungseinrichtungen, etc.) befürworteten überwiegend eine Anpassung hin zu mehr Berücksichtigung von Nachhaltigkeitsvorteilen, insbesondere auch wenn diese an anderer Stelle als bei den konkret von wettbewerbsschädlichen Kooperationen betroffenen Verbrauchern entstehen (sog. out-of-market efficiencies).

Beirat: Kein Änderungsbedarf, ganz im Gegenteil

Der Wissenschaftliche Beirat beim BMWK („Beirat“) hingegen lehnt mit ausführlicher Begründung eine erweiterte Berücksichtigung von Nachhaltigkeitsaspekten in der kartellrechtlichen Praxis ab, worauf nachfolgend überblicksartig eingegangen werden soll:

Wettbewerb sei die Grundlage für eine funktionsfähige sozial-ökologische Marktwirtschaft in Deutschland und den heutigen Wohlstand. Die Fokussierung des Kartellrechts auf den Schutz des Wettbewerbs als konstitutives Element einer freiheitlichen gesellschaftlichen Ordnung habe sich bewährt. Das Kartellrecht solle daher weiterhin am beschränkten Ziel der Verbraucherwohlfahrt und dem Schutz des Wettbewerbsprinzips festhalten. Andernfalls drohe insbesondere eine Politisierung des Kartellrechts und der Durchsetzung von dem Gemeinwohl und dem Wettbewerb konträren Eigeninteressen von Unternehmen (Stichwort „Greenwashing“). Eine über die beschränkte Zielsetzung hinausgehende Abwägung unter Einbezug von Nachhaltigkeitszielen sei Aufgabe der Politik, nicht der Wettbewerbsbehörden und Gerichte.

Das Kartellrecht biete in seiner heutigen Konzeption und Anwendung bereits vielfältige Möglichkeiten und Stellschrauben, um die außerwettbewerblichen Aspekte der Nachhaltigkeit zu berücksichtigen. Wettbewerb und Nachhaltigkeit stünden in keinem Zielkonflikt, vielmehr fördert Wettbewerb Innovationen, welche zur Nachhaltigkeit beitragen und insoweit nützlich sind. Der Beirat verweist auf die vergangene erfolgreiche Praxis des BKartA, das mittels Aufgreifermessens eigens Schwerpunkte setzte. Im Falle von wettbewerbsbeschränkenden Nachhaltigkeitsvereinbarungen hebt der Beirat zudem die bestehende Möglichkeit der Freistellung im Einzelfall hervor, auch wenn dies an enge Voraussetzungen wie Effizienzvorteile, Unerlässlichkeit der Wettbewerbsbeschränkung und angemessene Gewinnbeteiligung der Verbraucher gebunden ist. In diesem Kontext verweist der Beirat insbesondere auf die Guidance der 2023 überarbeiteten Horizontalleitlinien der Kommission, welche Nachhaltigkeitsvereinbarungen ein eigenes Kapitel widmen und u.a. die (hohen) Anforderungen eines informell geschützten Bereichs (sog. „Soft safe harbor“) für Nachhaltigkeitsvereinbarungen zu Standards und Normen erläutert. Der Beirat erkennt die politischen Bestrebungen, der Nachhaltigkeit im Kartellrecht mehr Bedeutung beizumessen, an, rät dem Gesetzgeber jedoch, out-of-market efficiencies allenfalls als eng umrissene, klar geregelte Ausnahme zu erfassen. Stattdessen sollte der Gesetzgeber primär anderweitige Rechtsgebiete und deren Instrumentarien (allgemeines Wirtschaftsordnungsrecht, Umweltrecht, Arbeitsrecht, etc.) nutzen. Auch verweist der Beirat auf die Möglichkeit, Nachhaltigkeitsziele durch die Bestimmung bereichsspezifischer Ausnahmen zu schaffen – wie bspw. auf europäischer Ebene Art. 210 Ziff. a der Verordnung über eine gemeinsame Marktorganisation für landwirtschaftliche Erzeugnisse (GMO), wonach unter bestimmten Voraussetzungen seit Ende 2021 eine Kartellrechtsausnahme für Nachhaltigkeitsvereinbarungen von Erzeugern landwirtschaftlicher Erzeugnisse vorgesehen ist.  

12. GWB-Novelle mit (noch) unklarem Konzept zur Nachhaltigkeit

Der Weg zur 12. GWB-Novelle ist noch weit, doch geht das BMWK in der Vorarbeit mit zügigen Schritten voran. Das Thema Nachhaltigkeit dominiert die Gesetzgebung auf europäischer und deutscher Ebene und könnte auch das Kartellrecht zukünftig konkreter prägen. Das Meinungsbild ist vielfältig, doch gerade der Beirat spricht sich deutlich für die Stärken des bereits geltenden Kartellrechts aus. Es ist mit Spannung zu erwarten, wie sich der Gesetzgeber im weiteren Novellierungsprozess zum Thema Nachhaltigkeit positionieren wird und von den bisherigen Meinungsbildern leiten lassen wird.

 

Quellennachweise
Stellungnahme BMWK vom 23.02.2024, „Öffentliche Konsultation zur Modernisierung des Wettbewerbsrechts - Wettbewerb weiter stärken“ 
Pressemitteilung des BMWK, 05.07.2024, „Gutachten zum Thema „Kartellrecht und Nachhaltigkeit“ 
Gutachten, „Kartellrecht und Nachhaltigkeit“, Stand 22. Mai 2024, Herausgeber Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz (BMWK)
18.01.2022, Pressemitteilungen des Bundeskartellamts, „Nachhaltigkeit im Wettbewerb erreichen – Bundeskartellamt schließt Prüfung von Brancheninitiativen ab“

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