Kürzerer Weg zum Bundesverfassungsgericht?
Das Bundesverfassungsgericht hat jüngst eine Verfassungsbeschwerde gegen eine zivilrechtliche Eil-Entscheidung für zulässig erachtet, obwohl der Beschwerdeführer zuvor nicht die ihm noch zur Verfügung stehenden zivilrechtlichen Rechtsbehelfe genutzt hatte. Ist der Weg zum Bundesverfassungsgericht nun also verkürzt worden?
Grundsatz: Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde gegenüber dem fachgerichtlichen Verfahren
Das Bundesverfassungsgericht wird – von wenigen Ausnahmen abgesehen (vgl. § 90 Abs. 2 Satz 2 BVerfGG) – im Verfassungsbeschwerdeverfahren erst tätig, wenn und soweit der fachgerichtliche Rechtsweg ausgeschöpft worden ist (vgl. § 90 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG). Rechtsverletzungen und damit auch Grundrechtsverletzungen sollen nämlich in erster Linie durch Amts-, Verwaltungs- und andere Fachgerichte selbst abgestellt werden. Dies bedeutet nicht, dass es bereits mit „klassischen“ Rechtsmitteln wie der Berufung oder der Revision in jedem Fall bereits sein Bewenden hätte. Das Bundesverfassungsgericht hat vielmehr unter dem Gesichtspunkt der Subsidiarität weitere Verpflichtungen eines Verfassungsbeschwerdeführers entwickelt, die er vor der Erhebung einer Verfassungsbeschwerde beachten muss. Unterlässt er dies, droht die Unzulässigkeit der später eingelegten Verfassungsbeschwerde.
Auf den Punkt gebracht beinhaltet der Subsidiaritätsgrundsatz Folgendes:
„Der Grundsatz der Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde verlangt in formeller Hinsicht, dass Beschwerdeführer alle nach Lage der Dinge zur Verfügung stehenden prozessualen Möglichkeiten ergreifen, um die geltend gemachte Grundrechtsverletzung schon im fachgerichtlichen Verfahren zu verhindern oder zu beseitigen (…). In materieller Hinsicht muss der zur Verfügung stehende Rechtsweg nicht nur formell, sondern auch in der gehörigen Weise unter Nutzung der gegebenen Möglichkeiten durchlaufen werden, um auf die Vermeidung oder Korrektur des gerügten Grundrechtsverstoßes hinzuwirken (…)“ (so BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 17. April 2024, Az.: 2 BvR 244/24, Rn. 15).
Im Rahmen dieses Beitrags können nicht sämtliche Konsequenzen dieser Anforderungen beleuchtet werden. Als Beispiele seien aber erwähnt, dass das Bundesverfassungsgericht dem Beschwerdeführer unter Umständen auch abverlangt, im fachgerichtlichen Verfahren einen Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu stellen (vgl. BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 18. September 2006, Az.: 2 BvR 1612/06, juris Rn. 3) oder eine Anhörungsrüge zu erheben (vgl. BVerfGE 122, 190, 198).
In der hier zu beleuchtenden Konstellation des Eilrechtsschutzes entspricht es der ständigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, dass vor dem Erheben einer Verfassungsbeschwerde auch ein Durchlaufen des fachgerichtlichen Hauptsacheverfahrens notwendig ist, wenn dies die Möglichkeit bietet, die Grundrechtsverletzungen des Beschwerdeführers zu beheben (vgl. BVerfGE 77, 381, 401). Dies dürfte in der Regel zu bejahen und der direkte Weg zum Bundesverfassungsgericht versperrt sein.
Bereits bislang anerkannte Ausnahmekonstellationen
Das Bundesverfassungsgericht lockert diese strengen Maßgaben in bestimmten Konstellationen:
Eine Verfassungsbeschwerde ist zunächst dann unmittelbar gegen die gerichtliche Eilentscheidung zulässig, wenn erstens keine weiteren tatsächlichen Aufklärungen durch die Fachgerichte (im Hauptsacheverfahren) notwendig sind und zweitens entweder das Verfahren von allgemeiner Bedeutung ist oder ein Verweis auf das Hauptsacheverfahren für den Beschwerdeführer einen schweren und unabwendbaren Nachteil verursachen würde (vgl. BVerfGE 77, 381, 401 f.; BVerfGE 53, 30, 52 ff.).
Zudem kommt eine Verfassungsbeschwerde direkt gegen die Eilentscheidung in Betracht, wenn die Notwendigkeit, zuvor ein Hauptsacheverfahren durchzuführen, dem Beschwerdeführer nicht zumutbar wäre. Dies ist der Fall, wenn eine Klage im Hinblick auf eine bereits bestehende entgegenstehende Rechtsprechung der Fachgerichte von vornherein als aussichtslos erscheinen muss oder wenn die Verletzung von Grundrechten durch die Eilentscheidung selbst – z. B. bei der Versagung rechtlichen Gehörs – geltend gemacht wird (BVerfGE 79, 275, 279; BVerfGE 70, 180 186).
Reflektiert man diese Maßstäbe, ist zu konstatieren, dass sie eher strenge Voraussetzungen statuieren und damit den strikten Grundsatz der Subsidiarität nur in geringem Maße abschwächen. Das Vorliegen einer Ausnahmekonstellation dürfte daher im Regelfall nur schwer zu begründen sein.
Neue Entwicklung
In diese starren Grundsätze ist nun durch die hier zu beleuchtende Kammer-Entscheidung Bewegung gekommen.
Der Verfahrensablauf vor den Zivilgerichten gestaltete sich dabei wie folgt:
Die Bundesrepublik Deutschland stellte im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes einen Unterlassungsantrag gegen einen bekannten Journalisten wegen dessen Äußerungen in einem sozialen Netzwerk. Das Landgericht Berlin wies diesen Antrag zurück (LG Berlin, 4. Oktober 2023, Az.: 27 O 410/23). Auf die sofortige Beschwerde der Bundesregierung änderte das Kammergericht Berlin diesen Beschluss ab und untersagte dem Journalisten die Aussage, die sich sehr kritisch mit der Entwicklungshilfepolitik der Bundesregierung auseinandersetzte, zu verbreiten (KG Berlin, Beschluss vom 14. November 2023, Az.: 10 W 184/23). Gegen diese Entscheidung des Kammergerichts Berlin erhob der Journalist sofort Verfassungsbeschwerde, mit der er eine Verletzung seines Grundrechts auf Meinungsfreiheit (Art. 5 Absatz 1 Satz 1 GG) rügte.
Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde trotz ungenutzter fachgerichtlicher Rechtsbehelfe
Das Bundesverfassungsgericht nahm die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an, obwohl der Beschwerdeführer im fachgerichtlichen Verfahren nicht alle Rechtsbehelfe, die ihm zur Verfügung standen, ausgenutzt hatte.
Gegen die Entscheidung des Kammergerichts Berlin hätte der Journalist zunächst noch Widerspruch i. S. d. § 924 ZPO einlegen können, weil das Kammergericht erstmals eine einstweilige Verfügung angeordnet hatte (vgl. dazu BGH, Beschluss vom 27. Februar 2003, Az.: I ZB 22/02, NJW 2003, 1531).
Zudem hätte er, weil von der Bundesrepublik Deutschland noch keine Hauptsache vor den Zivilgerichten anhängig gemacht worden war, einen Antrag nach § 926 Abs. 1 ZPO stellen können. Dann hätte das zuständige Gericht der Bundesrepublik Deutschland eine Frist zur Klageerhebung setzen müssen. Wäre die Bundesrepublik Deutschland dem nicht nachgekommen, hätte das Kammergericht die Aufhebung der einstweiligen Verfügung durch Endurteil aussprechen müssen (§ 926 Abs. 2 ZPO). So wäre der Beschwerdeführer also zu seinem Rechtsschutzziel gekommen.
Zudem hätte der Journalist auch selbst eine negative Feststellungsklage erheben und somit selbst ein Hauptsacheverfahren anstrengen können. Im Erfolgsfall hätte er gemäß § 927 ZPO die Aufhebung der bestehenden einstweiligen Verfügung beantragen können (vgl. Vollkommer, in: Zöller, ZPO-Kommentar, 35. Auflage, § 926 Rn. 3).
Immerhin drei fachgerichtliche Instrumente standen dem Beschwerdeführer also eigentlich noch zur Verfügung. Warum sah das Bundesverfassungsgericht die Verfassungsbeschwerde dennoch als zulässig an?
Unzumutbarkeit der nicht genutzten fachgerichtlichen Rechtsbehelfe
Die Kammer des Ersten Senats weist in seiner Entscheidungsbegründung darauf hin, dass zwar grundsätzlich auch der Rechtsweg in der Hauptsache zu erschöpfen sei, bevor eine Verfassungsbeschwerde erhoben werde. Dies gelte allerdings nicht, wenn „die Durchführung des Hauptsacheverfahrens unzumutbar ist“ (Rn. 24). Diese anerkannte Ausnahmekonstellation (s. o.) liege hier vor, weil die Hauptsacherechtsbehelfe (Antrag auf Anordnung der Klageerhebung bzw. eigene negative Feststellungsklage) „angesichts der nicht nur summarischen Prüfung des Kammergerichts aussichtslos“ gewesen seien. Weil das Kammergericht Berlin im Rahmen seiner Entscheidung also nach der Auffassung des Bundesverfassungsgerichts bereits eine ausführliche Prüfung der Sach- und Rechtslage vorgenommen hatte, war ein Durchlaufen des Hauptsacheverfahrens nicht mehr notwendig. Letztlich, so wohl die Ratio des Bundesverfassungsgerichts, habe der Beschwerdeführer im zivilgerichtlichen Hauptsacheverfahren nicht mehr mit einer von dem Beschluss im Eilrechtsschutz abweichenden Entscheidung von demselben Gericht rechnen können.
Hieran kann man durchaus Zweifel anmelden, ist der Beschluss des Kammergerichts Berlin hinsichtlich der maßgeblichen Rechtsfrage, ob im konkreten Fall eine unwahre Tatsachenbehauptung vorlag, die geeignet war, das Vertrauen der Bevölkerung in die Tätigkeit der Bundesrepublik Deutschland zu gefährden, doch eher knapp begründet (vgl. KG Berlin, Beschluss vom 14. November 2023, Az.: 10 W 184/23, juris Rn. 13-16). Zudem hatte die 2. Kammer des Ersten Senats in einer Entscheidung im Jahr 2020 noch festgehalten, dass ein (dort verwaltungsgerichtliches) Hauptsacheverfahren auch dann anzustrengen sei, wenn sich die eilgerichtliche Entscheidung nicht in einer summarischen Prüfung erschöpft, sondern die Sach- und Rechtslage eingehend geprüft habe (BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 15. Juli 2020, Az.: 1 BvR 1630/20, juris Rn. 10). Ob das Bundesverfassungsgericht von diesen Maßstäben nun grundlegend abrücken möchte, bleibt abzuwarten. Einzelne Kammerentscheidungen vermögen nämlich nicht einen ausreichenden Anhaltspunkt dafür bieten, dass zuvor etablierte Maßstäbe grundsätzlich der Vergangenheit angehören.
Hinsichtlich des dem Beschwerdeführer eigentlich noch zustehenden Widerspruchs gegen den Beschluss des Kammergerichts Berlin (§ 924 ZPO) argumentierte das Bundesverfassungsgericht in ähnlicher Weise: Zwar wäre es nach einem solche Widerspruch gemäß § 924 Abs. 2 Satz 2 ZPO zu einer erneuten Verhandlung vor dem erstinstanzlichen Landgericht Berlin gekommen. Dieses hätte seine Entscheidung auch zugunsten des Journalisten abändern können (vgl. § 925 Abs. 2 ZPO). Hiergegen hätte die Bundesrepublik Deutschland aber wiederum die Berufung einlegen können (vgl. § 925 Abs. 1, 511 Abs. 1 ZPO), womit es zu einer erneuten Entscheidung des Kammergerichts Berlin gekommen wäre (eine Revision hiergegen wäre im Übrigen wegen § 542 Abs. 2 ZPO nicht statthaft gewesen). Das Bundesverfassungsgericht argumentiert in seiner Entscheidungsbegründung nun wie folgt: Es sei gerade nicht damit zu rechnen gewesen, dass das Kammergericht Berlin, welches bei seiner ersten Befassung zugunsten der Bundesrepublik Deutschland entschieden hatte, im Rahmen eines erneuten Verfahrens (Entscheidung über eine Berufung) zu einer für den Beschwerdeführer günstigeren Entscheidung gelangt wäre. Von einem von vornherein aussichtslosen Rechtsbehelf müsse ein Beschwerdeführer aber nicht Gebrauch machen, um dem Grundsatz der Subsidiarität zu genügen (Rn. 25). Hierbei nimmt die Kammer wohl auch Rückgriff auf die bereits zuvor anerkannte Ausnahmekonstellation „bereits bestehende entgegenstehende Rechtsprechung der Fachgerichte“ (s.o.).
Fazit
Die Entscheidung zeigt: Wenn ein fachgerichtliches Eilverfahren durchlaufen worden ist und sich ein Verfahrensbeteiligter anschließend die Frage stellt, ob nunmehr das fachgerichtliche Hauptsacheverfahren durchlaufen bzw. sonstige Rechtsbehelfe ergriffen werden müssen oder sich wegen grundrechtlicher Implikationen der Fallgestaltung nicht auch eine Verfassungsbeschwerde anbieten könnte, lohnt sich eine genaue Prüfung dieser Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts. Denn die Kammer-Entscheidung gibt einen Impuls dahingehend, dass die sonst sehr streng gehandhabte Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde in dieser Konstellation zukünftig lockerer gehandhabt werden könnte. Jedenfalls lohnt sich eine anwaltliche Beratung, um einschätzen zu können, ob sich das Hauptverfahren – was ggf. ein Durchschreiten der Instanzen bis zu den Bundesgerichten verlangen kann – nicht „gespart“ werden kann und sich stattdessen ein unmittelbarer Gang zum Bundesverfassungsgericht lohnen könnte.

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