13 November 2019 Pressemitteilungen

Das Grundgesetz vor neuen Auf­ga­ben: Pri­vati­sie­rung, Glo­ba­li­sie­rung, Di­gi­ta­li­sier­ung

Das Grundgesetz ist in aller Munde: Anlässlich des 70-jährigen Geburtstages unserer Verfassung beherrschen Themen wie die Digitalisierung, der Klimaschutz und die Nachhaltigkeit die öffentliche Diskussion. Ist das Grundgesetz für die sich stellenden Aufgaben gerüstet? Zu dieser und weiteren Fragen diskutierten gestern in Berlin etwa 100 Teilnehmer aus Politik, Wirtschaft und Recht auf Einladung der Wirtschaftskanzlei GvW Graf von Westphalen, des Verbandes der Chemischen Industrie e. V. (VCI) sowie der Medienpartner NJW/ZRP. Es war bereits die neunte Veranstaltung der GvW-Reihe „Berliner Gespräche“ – einer interdisziplinären Diskussionsplattform der Kanzlei zu den Themen von morgen.

Nach der Begrüßung durch GvW-Partner Dr. Werner Schnappauf und dem Grußwort von MdB Prof. Dr. Heribert Hirte stellte Prof. Dr. Ferdinand Kirchhof, Vizepräsident des Bundesverfassungsgerichts a. D., seine Thesen zu den Herausforderungen vor, vor denen das Grundgesetz steht (mehr zu den Thesen lesen Sie hier). Sein Fazit: Es bestehe Handlungsbedarf hinsichtlich der Themen Privatisierung, Globalisierung und Digitalisierung. Herr Prof. Kirchhof plädierte angesichts der Privatisierung wichtiger Infrastrukturen (z. B. Telekommunikation und Eisenbahn) dafür, Sicherungsmechanismen für eine ausreichende Daseinsvorsorge zu schaffen. Ein großes Risiko erkannte Herr Prof. Kirchhof darin, dass es vermehrt nichtstaatliche „Global Player“ gebe, die extraterritorial agierten und sich dadurch oft außerhalb unserer Rechtsordnung bewegten. Diese mächtigen Privaten seien, anders als der Staat, gerade keine Adressaten der Grundrechte. Der wirksamen Durchsetzung von Grundrechten stehe daher vermehrt, gerade auch im Bereich privater Daseinsvorsorge, der Umstand entgegen, dass es an einem Grundrechtsverpflichteten fehle. Rechtsschutz gegen die Global Player sei insgesamt nur unter Schwierigkeiten möglich.

Weiter forderte Kirchhof, undemokratische und intransparente Algorithmen keine politisch-wertenden Entscheidungen treffen zu lassen, sondern hier auf einem „Menschenvorbehalt“ zu bestehen. Beispielhaft nannte er insoweit den Erlass von Verwaltungsakten. Unter diesen Gesichtspunkten existiere der Bedarf einer behutsamen Anpassung unserer Verfassung an die geänderten Realitäten. Eine Aufnahme bspw. von Kindergrundrechten oder eines Staatsziels der Nachhaltigkeit in das Grundgesetz wäre nach Auffassung des Verfassungsrechtlers demgegenüber reine Symbolik und daher verzichtbar.

GvW-Partner Prof. Dr. Christian Winterhoff eröffnete anschließend die Diskussion mit dem Publikum und trat mit Herrn Prof. Kirchhof in einen Dialog über die Frage ein, wie trotz der Übertragung wichtiger Leistungen und Infrastrukturen auf Private ein Leerlaufen der Grundrechte verhindert werden könne. Der Hamburger Verfassungsrechtler sieht in jüngeren Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts (z. B. Bier-Flashmob – BVerfG, Beschl. v. 18.07.2015, 1 BvQ 25/15, Stadionverbot, BVerfG, Beschl. v. 11.04.2018, 1 BvR 3080/09) eine Tendenz der Richter, die mittelbare Drittwirkung der Grundrechte auszuweiten und insbesondere die Intensität der Grundrechtsbindung Privater zu erhöhen. Herr Prof. Kirchhof erläuterte dann am Beispiel des Art. 10 GG die Frage, ob es sinnvoll sei, durch eine Änderung der Verfassung eine unmittelbare Drittwirkung dieses Grundrechts einzuführen.

Die praktische Rechtsschutzverweigerung von Global Playern, die extraterritorial agieren und über eine unglaubliche Fülle an Informationen verfügen, hält Herr Prof. Kirchhof für eine Gefahr für den Rechtsstaat. Hier könnte eine Pflicht zur Benennung eines rechtsfähigen Ansprechpartners im Gebiet der Bundesrepublik Abhilfe schaffen, teilte der langjährige Vizepräsident des Bundesverfassungsgerichts dem Publikum seine Überlegungen mit. Außerdem befürwortet er in diesem Zusammenhang ein koordiniertes Vorgehen der EU.

Algorithmen seien zutiefst undemokratisch, führte Herr Prof. Kirchhof sodann aus. Solche von Programmierern geschaffenen Regelungssysteme seien völlig intransparent und daher demokratisch nicht legitimiert. Verliere der Rechtsstaat hier die Kontrolle, so falle zugleich die Demokratie aus. Unter diesem Aspekt begrüßte er die von Herrn Prof. Winterhoff zitierte Entscheidung des Saarländischen Verfassungsgerichtshofs (Urteil v. 05.07.2019, Lv 7/17).). In der sog. „Blitzer“-Entscheidung hatten die Richter die fehlende Möglichkeit einer nachträglichen Richtigkeitskontrolle der Messdaten bemängelt.

Wir bedanken uns – auch im Namen des Verbandes der Chemischen Industrie e. V. (VCI) sowie unseres Medienpartners NJW/ZRP – sehr herzlich bei Herrn Prof. Kirchhof für seinen überaus informativen und kurzweiligen Vortrag und seine klaren Einschätzungen zur aktuellen Situation.

Bleiben Sie informiert

Sie wollen keine aktuellen Rechtsentwicklungen mehr verpassen? Und zu unseren Veranstaltungen eingeladen werden? Dann melden Sie sich gerne hier an.