Debatte um Arbeitszeiterfassung geht weiter – und warum Ausschlussfristen umso wichtiger sind
In Deutschland und anderen europäischen Ländern wird seit gut zwei Jahren um die Erfassung der täglichen Arbeitszeit debattiert. Ausgangspunkt der Debatte ist ein vielfach besprochenes Urteil des EuGH vom 14. Mai 2019 (C-55/18).
Mit diesem Urteil hat der EuGH entschieden, dass die Mitgliedstaaten die Arbeitgeber durch nationales Recht dazu verpflichten müssen, ein „objektives, verlässliches und zugängliches System zur Arbeitszeiterfassung“ einzurichten. Die Erfassung der Arbeitszeit soll dabei grundsätzlich für alle Arbeitsverhältnisse gelten und nicht nur für einzelne Branchen oder Minijobs. Sie geht damit deutlich über die heutige Gesetzeslage in Deutschland hinaus.
In der Folgezeit wurde es jedoch zunächst ruhiger um dieses Urteil. Dies lag vor allem daran, dass es die vom EuGH geforderte nationale Regelung in Deutschland noch nicht gibt. Eine Umsetzung wird es auch vor der kommenden Bundestagswahl im September 2021 nicht mehr geben.
Damit steht auch nicht fest, welche Details der Arbeitszeit zukünftig erfasst werden müssen. In jedem Falle werden Beginn und Ende der täglichen Arbeitszeit festgehalten werden müssen. Wenn aber beispielsweise nicht nur die Dauer von Arbeitspausen, sondern auch deren Beginn und Ende erfasst werden müssten, kann dies Auswirkungen darauf haben, wo im Betrieb die Zeiterfassungsterminals einzurichten sind.
Arbeitsgericht Emden wartet nicht auf den Gesetzgeber
Die zweite Kammer des Arbeitsgerichts Emden hat dann jedoch ab Februar 2020 Schwung in die Debatte gebracht. Sie hat in mittlerweile drei Urteilen unmittelbare Konsequenzen aus dem Urteil des EuGH gezogen, ohne auf den deutschen Gesetzgeber zu warten.
In allen drei Fällen (Az: 2 Ca 94/19, 2 Ca 144/20 und 2 Ca 399/18) hatten Arbeitnehmer auf Vergütung für angeblich geleistete, von den Arbeitgebern aber nicht vergütete Arbeitszeiten geklagt. Auch wenn sich die drei Fälle im Detail unterschieden, verweigerten die Arbeitgeber doch zusammenfassend die Vergütung mit der Begründung, die Arbeitnehmer hätten die angeblichen Arbeitszeiten gar nicht geleistet oder sie – die Arbeitgeber – hätten diese Arbeitszeiten jedenfalls nicht angeordnet.
Das Arbeitsgericht Emden nahm in allen drei Entscheidungen an, dass Arbeitgeber bereits heute – also vor der Umsetzung des EuGH-Urteils in nationales Recht – eine Verpflichtung zur genauen Erfassung und Kontrolle der Arbeitszeiten ihrer Mitarbeiter treffe. Diese Verpflichtung ergebe sich unmittelbar aus der Art. 31 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union bzw. aus §§ 618, 242 Abs. 2 BGB in europarechtskonformer Auslegung.
Da die Arbeitgeber in allen drei Angelegenheiten die Arbeitszeiten der klagenden Mitarbeiter aber nicht entsprechend erfasst hatten, konnten Sie hierzu vor Gericht nicht detailliert Stellung nehmen. Die Arbeitgeber beschränkten sich im Wesentlichen darauf, die Ausführungen der Mitarbeiter zu bestreiten. Damit hätten die Arbeitgeber aber – so das Arbeitsgericht Emden – ihrer zivilprozessualen Darlegungs- und Beweislast nicht genügt. Das Gericht verurteilte sie daher zur Zahlung.
Die drei Urteile sind auf vielfältige Kritik gestoßen. Dem Arbeitsgericht Emden wurde insbesondere vorgehalten, dass es zur Beantwortung vergütungsrechtlicher Fragen solche Vorschriften herangezogen habe, die (nur) dem Schutz von Sicherheit und Gesundheit dienen. Die Arbeitszeit im Sinne des Arbeitsschutzrechts sei aber nicht zwingend identisch mit der zu vergütenden Arbeitszeit.
Landesarbeitsgericht Niedersachsen ändert Entscheidung ab und lässt Revision zu
Der im dritten Urteil des Arbeitsgerichts Emden (vom 9. November 2020) unterliegende Arbeitgeber hat gegen das Urteil Berufung beim Landesarbeitsgericht Niedersachsen eingelegt.
Das LAG hat das erstinstanzliche Urteil nunmehr am 6. Mai 2021 (5 Sa 1292/20) abgeändert und festgestellt, dass der klagende Arbeitnehmer keinen Anspruch auf Überstundenvergütung hat.
Die Urteilsgründe liegen zwar noch nicht vor. Der Pressemitteilung kann jedoch entnommen werden, dass das Berufungsgericht nach heutigem Stand keine generelle Verpflichtung des Arbeitgebers zur Arbeitszeiterfassung annimmt. Eine solche Verpflichtung ergebe sich insbesondere nicht aus europarechtlichen Vorschriften.
Daher bleibe es bei der bekannten Verteilung der Darlegungs- und Beweislast: Ein Arbeitnehmer, der Vergütung einklage, müsse ausreichend darlegen, zu welchen Zeiten er gearbeitet habe und dass er die Arbeit auf Verlangen des Arbeitgebers oder zumindest von diesem geduldet geleistet habe.
Dem klagenden Arbeitnehmer war es aber nach Ansicht des LAG gerade nicht gelungen, die von ihm behaupteten Überstunden hinreichend konkret darzulegen. Daher hat das LAG die Klage abgewiesen.
Mit dieser Entscheidung ist das LAG Niedersachsen somit zu den bekannten Grundsätzen zurückgekehrt, die das Bundesarbeitsgericht vor dem EuGH-Urteil aus dem Jahre 2019 aufgestellt hat. Jedoch hat das LAG auch die Revision zum BAG zugelassen. Abzuwarten bleibt daher zunächst, ob der unterlegene Arbeitnehmer seine Ansprüche gerichtlich weiter verfolgt und ob das BAG dann seine bisherige Rechtsprechung bestätigt.
Fazit: Ausschlussfristen bleiben wichtig
Die Debatte um die Erfassung der Arbeitszeiten ist damit weiterhin nicht ausgestanden. Es müssen sowohl die weitere Entwicklung der Rechtsprechung als auch das zu erwartende Gesetzesvorhaben verfolgt werden.
Arbeitgeber, die die Arbeitszeiten ihrer Mitarbeiter bislang nicht detailliert erfassen, können im Vorgriff hierauf schon Investitionen in die erforderliche Hard- und Software vornehmen. Es ist dann aber darauf zu achten, dass das Zeiterfassungssystem an die gesetzlichen Vorgaben angepasst werden kann, sobald diese bekannt sind.
Wichtiger erscheint jedoch, dass Arbeitgeber auf die Vereinbarung wirksamer Ausschlussfristen achten. In der Praxis geht es häufig um vergleichbare Sachverhalte: Mitarbeiter behaupten zumeist im Nachhinein, monate- oder jahrelang zusätzliche Arbeit geleistet zu haben, ohne hierfür aber bislang vergütet worden zu sein. Die Forderung wird dann erst erhoben, wenn es aus anderen Gründen zum Streit kommt, insbesondere im Zusammenhang mit der Kündigung des Arbeitsverhältnisses.
Durch wirksame Ausschlussfristen kann das Risiko des Arbeitgebers bei solchen Sachverhalten begrenzt werden. Dies erfordert zum einen natürlich, dass die Ausschlussfristen (beispielsweise im Arbeitsvertrag) vereinbart werden. Zum anderen müssen die Ausschlussfristen aber auch den Vorgaben der aktuellen Gesetzgebung und Rechtsprechung genügen.
Dabei ist besondere Vorsicht geboten, wenn schon länger bestehende Arbeitsverträge nachträglich angepasst werden. Für einige „Altverträge“ besteht eine Art von Bestandschutz, der bei einer späteren Vertragsänderung entfallen kann.
So dürfen Ausschlussfristen seit dem 1. Januar 2015 nicht mehr Ansprüche nach dem Mindestlohngesetz erfassen. Seit dem 1. Oktober 2016 dürfen Ausschlussfristen zudem nicht mehr die Geltendmachung in Schriftform verlangen.
Ausschlussfristen, die vor diesen Daten vereinbart worden sind, verstoßen in aller Regel gegen diese beiden Vorgaben. Solche „Altverträge“ werden aber privilegiert und bleiben wirksam, auch wenn sie in dieser Form heute nicht mehr vereinbart werden dürften. Diese Privilegierung endet aber, wenn „Altverträge“ geändert und dabei die „Altklauseln“ zu den Ausschlussfristen bestätigt werden. In diesem Fall müssen die Ausschlussfristen an die heutigen Vorgaben angepasst werden, damit sie nicht unwirksam werden.