Die neue zivilprozessuale Musterfeststellungsklage: Ein Überblick
Zum 1. November 2018 ist die neue zivilprozessuale Musterfeststellungsklage in Kraft getreten. Die Erwartungen an die Musterfeststellungsklage vor allem aus Politik und Verbrauchersicht sind hoch.
1. Rechtsgrundlagen, Voraussetzungen und Verfahrensablauf
Die Musterfeststellungsklage war im Koalitionsvertrag für die 19. Legislaturperiode vorgesehen und sie beruht auf europarechtlichen Empfehlungen (BT-Drs. 19/2439, 1). Ausweislich ihrer Gesetzesbegründung soll sie u.a. die Rechtsdurchsetzung für Verbraucher verbessern, indem sie durch Bündelung von Ansprüchen zahlreicher gleichartig geschädigter Verbraucher diesen kollektiven Rechtsschutz gegen dieselbe beklagte Partei gewährt. Zudem soll die Musterfeststellungsklage auch zu einer Entlastung der Justiz beitragen (BT-Drs. 19/2439, 1, 15, 32). Im Musterfeststellungsverfahren können Ansprüche in allen verbraucherrechtlichen Angelegenheiten geltend gemacht werden – es gibt keine Beschränkung auf ein bestimmtes Rechtsgebiet (BT-Drs. 19/2439, 15 f.). Der häufigste Anwendungsfall der Musterfeststellungsklage wird wohl im Bereich von Schadensersatzklagen gegen große Konzerne zu erwarten sein.
Die Regelungen zur Musterfeststellungsklage sind in das 6. Buch (§§ 606-614) der ZPO implementiert worden. Nach § 606 Abs. 1 ZPO können mit der Musterfeststellungsklage qualifizierte Einrichtungen die Feststellung des Vorliegens oder Nichtvorliegens von tatsächlichen und rechtlichen Voraussetzungen für das Bestehen oder Nichtbestehen von Ansprüchen oder Rechtsverhältnissen (Feststellungsziele) zwischen Verbrauchern und einem Unternehmer begehren. Die gesetzliche Konzeption sieht durch eine ausschließliche Klagebefugnis von bestimmten qualifizierten Einrichtungen vor, dass die betroffenen Verbraucher selbst keine Partei des Musterfeststellungsverfahrens werden, sondern dieses ausschließlich zwischen dem klagenden Verbraucherschutzverband und der beklagten Partei geführt wird (BT-Drs. 19/2439, 1, 16). Sachlich zuständig sind in erster Instanz die Oberlandesgerichte (§ 119 Abs. 3 GVG) und örtlich ausschließlich zuständig ist für Klagen in Musterfeststellungsverfahren das Gericht des allgemeinen Gerichtsstands des Beklagten, sofern sich dieser im Inland befindet (§ 32 c ZPO).
Die wesentlichen Zulässigkeitsvoraussetzungen sind in § 606 ZPO normiert: Demnach ist die Musterfeststellungsklage nur dann zulässig, wenn sie von einer im Sinne des § 606 Abs. 1 S. 2 ZPO iVm. § 3 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 UKlaG qualifizierten Einrichtung erhoben wird und zusätzlich glaubhaft gemacht wird, dass von den mit der Musterfeststellungsklage verfolgten Feststellungszielen die Ansprüche oder Rechtsverhältnisse von mindestens zehn Verbrauchern abhängen und zwei Monate nach öffentlicher Bekanntmachung der Musterfeststellungsklage mindestens fünfzig Verbraucher ihre Ansprüche oder Rechtsverhältnisse zur Eintragung in das Klageregister wirksam angemeldet haben. § 606 Abs. 1 S. 2 ZPO iVm. § 3 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 UKlaG definiert, wann eine qualifizierte Einrichtung iSd. § 606 Abs. 1 S. 1 ZPO vorliegt. Für Verbraucherzentralen wird unwiderleglich vermutet, dass diese und andere Verbraucherverbände, die überwiegend mit öffentlichen Mitteln gefördert werden, die Voraussetzungen des § 606 Abs. 1 S. 2 ZPO erfüllen (vgl. § 606 Abs. 1 S. 4 ZPO).
Um für Verbraucher die Wahrnehmung ihrer Rechte so einfach wie möglich zu gestalten, sieht das Gesetz die öffentliche Bekanntmachung einer Musterfeststellungsklage im Klageregister unter Nennung der wesentlichen Angaben zur Musterfeststellungsklage vor (u.a. Bezeichnung der Parteien; kurze Darstellung des vorgetragenen Lebenssachverhalts; Feststellungsziele), vgl. § 607 Abs. 1 ZPO. Hierdurch werden Verbraucher die ggf. gleichartige Ansprüche gegen die Musterfeststellungsbeklagte haben, frühzeitig, d.h. innerhalb von 14 Tagen nach Erhebung der Musterfeststellungsklage (§ 607 Abs. 2 ZPO), über den wesentlichen Inhalt der Musterfestellungsklage informiert und sie können dann gemäß § 608 ZPO Ansprüche oder Rechtsverhältnisse, die von den Feststellungszielen abhängen, zur Eintragung in das Klageregister anmelden. Die Anmeldung ins Klageregister ist kostenfrei und eine anwaltliche Vertretung obsolet (vgl. BT-Drs. 19/2439, 16, 17).
2. Zivilprozessuale Wirkungen und Besonderheiten
§ 613 ZPO normiert die wichtigsten prozessualen Wirkungen im Musterfeststellungsverfahren: Durch das rechtskräftige Musterfeststellungsurteil wird das zur Entscheidung eines Rechtsstreits zwischen einem angemeldeten Verbraucher und dem Beklagten angerufene Gericht gebunden, soweit dessen Entscheidung die Feststellungsziele und den Lebenssachverhalt der Musterfeststellungsklage betrifft. Hieraus folgt, dass das Musterfeststellungsurteil, egal ob stattgebend oder abweisend, in einem Folgeprozess zwischen einem angemeldeten Verbraucher und der beklagten Partei Bindungswirkung entfaltet (BT-Drs. 19/2439, 28). Ein angemeldeter Verbraucher kann einer Bindungswirkung des Musterfeststellungsurteils nur noch dadurch “entgehen”, dass er seine Anmeldung wirksam zurücknimmt (§§ 613 Abs. 1 S. 2, 608 Abs. 3 ZPO). Wichtig ist, dass das Musterfeststellungsurteil für den Verbraucher stets nur der erste Schritt auf dem Weg zur Rechtsdurchsetzung ist, denn die endgültige Durchsetzung der jeweiligen Ansprüche obliegt auch weiterhin jedem Verbraucher individuell; sei es auf dem Klageweg oder durch außergerichtliche Streitbeilegung (vgl. BT-Drs. 19/2439, 17). Die Erhebung der Musterfeststellungsklage hemmt jedoch die Verjährung für die im Klageregister angemeldeten Ansprüche, so dass hierdurch der Gefahr von Rechtsverlusten vorgebeugt werden kann (vgl. § 204 Abs. 1 Nr. 1a BGB). Neben der Bindungswirkung des Musterfeststellungsurteils, entfaltet schon die Erhebung einer Musterfeststellungsklage ab dem Tag der Rechtshängigkeit eine Sperrwirkung für eine weitere Musterfeststellungsklage gegen den Beklagten, soweit deren Streitgegenstand denselben Lebenssachverhalt und dieselben Feststellungsziele betrifft (§ 610 Abs. 1 ZPO). Im Übrigen regelt § 613 Abs. 2 ZPO die Aussetzung von Verfahren, die der Verbraucher vor der Bekanntmachung der Angaben zur Musterfeststellungsklage im Klageregister gegen den Beklagten eingebracht hat, soweit dessen Entscheidung die Feststellungsziele und den Lebenssachverhalt der Musterfeststellungsklage betrifft. Die Aussetzung erfolgt aber nur dann, wenn der Verbraucher sich der Musterfeststellungsklage anschließt.
Vorbehaltlich etwaiger Sonderregelungen im 6. Buch, finden auf die Musterfeststellungsklage die im ersten Rechtszug für das Verfahren vor den Landgerichten geltenden Vorschriften entsprechende Anwendung. Als prozessuale Besonderheiten sind der Erlass einer Entscheidung ohne vorherige mündliche Verhandlung und der Erlass eines Verzichtsurteils ausgeschlossen (§ 610 Abs. 5 ZPO). Innerhalb der ZPO sind weitere Vorschriften um neue Absätze ergänzt worden, die sich auf die Musterfeststellungsklage beziehen. Zu erwarten ist, dass insbesondere § 148 Abs. 2 ZPO in der gerichtlichen Praxis zukünftig eine größere Rolle spielen wird. Nach § 148 Abs. 2 ZPO kann nämlich ein Gericht auf Antrag des Klägers, der nicht Verbraucher ist, anordnen, dass die Verhandlung bis zur Erledigung des Musterfeststellungsverfahrens ausgesetzt wird, wenn die Entscheidung des Rechtsstreits von Feststellungszielen abhängt, die den Gegenstand eines anhängigen Musterfeststellungsverfahrens bilden. Gerade die Regelung des § 148 Abs. 2 ZPO verdeutlicht, dass der Gesetzgeber offensichtlich von einer faktischen Bindungswirkung der in Musterfeststellungsverfahren getroffenen Feststellungen auch für Verfahren ausgeht, die von Nichtverbrauchern geführt werden (vgl. BT-Drs. 19/2741, 24).
3. Rechtsmittel
Das Musterfeststellungsurteil ist im Klageregister öffentlich bekannt zu machen. Dasselbe gilt für den Eintritt der Rechtskraft und die Einlegung eines Rechtsmittels (§ 612 ZPO). Gegen das Musterfeststellungsurteil ist nur die Revision vor dem BGH zulässig, wobei von Gesetzes wegen unterstellt wird, dass die Sache grundsätzliche Bedeutung im Sinne des § 543 Abs. 2 Nr. 1 ZPO hat (vgl. § 614 ZPO).
4. Bewertung und Ausblick
Prozessual ist noch einiges ungeklärt und im Fluss. Die Erfahrungen mit den ersten Musterfeststellungsklagen werden zeigen, ob das Rechtsinstitut die hohen Erwartungen, die an es gestellt werden auch erfüllt. Angesichts des gesetzlich vorgezeichneten langen Wegs zum endgültigen Titel, steht jedoch zu erwarten, dass Verbraucher nur dann die Musterfeststellungsklage einer Individualklage vorziehen werden, wenn aufgrund drohender Verjährung ein endgültiger Rechtsverlust zu befürchten ist. Da für angemeldete Verbraucher kein Prozesskostenrisiko besteht, bietet die Musterfeststellungsklage zudem einen besonderen Anreiz für nicht rechtsschutzversicherte Verbraucher, die anderenfalls auf eine Verfolgung ihrer Ansprüche im Wege der Individualklage aufgrund des oftmals nicht kalkulierbaren Kostenrisikos vollständig verzichten würden.
Dr. Julia Christine Pohl, Rechtsanwältin
Frankfurt am Main