Mai 2023 Blog

M&A unter kartellrechtlicher Kontrolle ohne klare Grenzen?

Die Wettbewerbsbehörden erhalten eine neue kartellrechtliche Kontrollmöglichkeit von Zusammenschlussvorhaben. Die Bedeutung der Schwellenwerte als alleinige formale Hürde für eine Anmeldepflicht scheint abzunehmen. Künftig werden auch andere Faktoren für eine Überprüfung und Verfahrenseinleitung relevant sein: Denn Zusammenschlussvorhaben müssen auch unter dem Blickwinkel des Verbots des Missbrauchs von Marktmacht (Art. 102 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union, kurz AEUV) beurteilt werden.

Rückblick und der „Towercast“-Fall

Vor 50 Jahren hat der EuGH entschieden, dass die kartellrechtliche Missbrauchsaufsicht (Art. 102 AEUV) auch bei Zusammenschlussvorhaben anwendbar ist (sog. „Continental Can-Doktrin“). Zu jener Zeit existierte aber noch keine gesetzliche Regelung des Fusionskontrollrechts wie der heutigen EU-Fusionskontrollverordnung, vor deren Hintergrund der EuGH kürzlich einen ähnlichen Fall zu entscheiden hatte:

Towercast, TDF und Itas sind die einzigen Anbieter von DVB-T in Frankreich. TDF erwarb den kleineren Anbieter Itas. Das Zusammenschlussvorhaben war nicht anmeldepflichtig (die Umsätze der Beteiligten lagen unterhalb der fusionskontrollrechtlichen Schwellenwerte) und wurde daher nicht geprüft.

Towercast – als einzig verbliebener Wettbewerber von TDF – legte Beschwerde bei der französischen Wettbewerbsbehörde wegen eines behaupteten Missbrauchs von Marktmacht seitens TDF durch das Zusammenschlussvorhaben ein. Die Behörde verwies jedoch auf die gesetzlichen Vorschriften und der danach fehlenden Zuständigkeit für eine fusionskontrollrechtliche Überprüfung.

Towercast klagte in der Folge wegen Untätigkeit der französischen Wettbewerbsbehörde. Das Pariser Berufungsgericht legte dem EuGH daraufhin die Frage vor, ob die Grundsätze der europarechtlichen Continental Can-Doktrin durch das nunmehr normierte Fusionskontrollrecht verdrängt werden oder auch weiterhin (ergänzend) Anwendung finden sollen.

Auf die Vorlage fasste die Generalanwältin beim EuGH, Frau Kokott, zusammen: Alles beim Alten (vgl. Continental Can-Doktrin) – trotz des Erlasses der jüngeren Fusionskontrollregeln. Insbesondere könnten Verordnungen (Sekundärrecht) die Anwendung des Missbrauchsverbots aus dem primärrechtlichen AEUV (gewissermaßen die „Verfassung“ der EU) nicht beschränken. Das Missbrauchsverbot diene auch dem effektiven Wettbewerbsschutz vor so genannten „killer acquisitions“.

Überblick: Die „Towercast“-Entscheidung

In der Folge bejahte der EuGH auch 2023 die Anwendbarkeit des Missbrauchsverbots bei M&A-Deals, welche die fusionskontrollrechtlichen Schwellenwerte nicht erreichen. Nach den Schlussanträgen gab es Kritik aus der rechtswissenschaftlichen Literatur, die vor allem vor einer Rechtsunsicherheit bei Transaktionen gewarnt hatte. Das hat den EuGH in Luxemburg aber nicht beeindruckt.

Seitenblick: „Illumina“ und § 39a GWB

Eine mögliche Erklärung ist, dass die Entscheidung den großen Linien der aktuellen Entwicklung im Kartellrecht folgt, die der Fusionskontrolle weitreichendere Befugnisse vermitteln soll, um oligopolistischen Märkten vorzubeugen. In einer weiteren Entscheidung hatte etwa der EuGH geurteilt, dass nationale Kartellbehörden auf Grundlage des Art. 22 FKVO Fälle an die Kommission verweisen können, obwohl weder die Schwellenwerte der nationalen noch europäischen Fusionskontrolle überschritten sind. Und in Deutschland können auf Grundlage des § 39a GWB (nach einer Sektoruntersuchung und unter weiteren Voraussetzungen) Unternehmen per Verfügung verpflichtet werden, jedes Zusammenschlussvorhaben anzumelden, wenn das Target im letzten Geschäftsjahr mehr als EUR 2 Millionen Umsatz erzielte und dabei 2/3 des Gesamtumsatzes auf Deutschland entfiel. Die 11. GWB-Novelle wiederum möchte die Eingriffsbefugnisse des Bundeskartellamts im Anschluss an Sektoruntersuchungen deutlich erweitern.

Einblick und Einordnung

Rechtsdogmatisch ist die Towercast-Entscheidung insoweit wenig überraschend, als es sich um die Fortsetzung der Continental Can-Doktrin handelt. Generalanwältin Kokott hat diese Fortsetzung zudem theoretisch gut begründet: Der Vorrang des Art. 102 AEUV als Primärrecht vor der FKVO ist ein so einfaches wie zugleich unumstößliches Argument.

Darüber hinaus stützt sich der EuGH auf die vom Gesetzgeber mit dem Kartellrecht verfolgten Ziele. Diese sind im Rahmen der Fusionskontrolle und der Missbrauchsaufsicht verschieden, eine „Doppelkontrolle“ ist daher nicht widersprüchlich und im Übrigen auch nach bisheriger Entscheidungspraxis nichts Neues: Fusionskontrolle soll Entstehen oder Verstärkung einer marktbeherrschenden Stellung verhindern (ex-ante). Die Missbrauchsaufsicht greift dagegen (erst), wenn ein Unternehmen eine marktbeherrschende Stellung innehat und diese missbraucht.

Dies ändert aber nichts an den praktischen Folgen: Das Urteil sorgt für eine gewisse Transaktionsunsicherheit. Um das Risiko eines Verfahrens durch die EU-Kommission bei einem Zusammenschlussvorhaben zu beurteilen, muss neben den Umsätzen nun auch die Marktmacht des Käufers auf dem relevanten Markt berücksichtigt werden. Ist der Käufer z.B. auf einem Produktmarkt etwa aufgrund seiner Marktanteile beherrschend, auf dem auch ein Target aktiv ist (oder einem benachbarten Markt), ist ein Missbrauchsverfahren durch die EU-Kommission grundsätzlich möglich, auch wenn die fusionskontrollrechtlichen Schwellenwerte eben nicht erreicht werden. Die Wettbewerbsbehörden können damit eine weitere und bereits vor der EuGH-Entscheidung bestehende Möglichkeit nutzen, um Verfahren zur Überprüfung von M&A-Transaktionen einzuleiten. So wie im Falle Towercast kann es sich um eher spezielle Konstellationen handeln, in denen diese Möglichkeit nicht direkt auf der Hand liegt.

Ausblick

Die praktischen Auswirkungen der Entscheidung werden sich erst noch zeigen müssen. Nach ersten Signalen sieht die Kommission hier noch keine Verschiebung in den Prioritäten bei der Fusionskontrolle. Aus unserer Sicht handelt es sich um einen eher engen Anwendungsbereich: Die fusionskontrollrechtlichen Schwellenwerte dürfen nicht erreicht werden, die Umsätze müssen also (relativ) niedrig sein. Weiterhin muss ein Käufer auf einem Markt eine beherrschende Stellung innehaben und das Target auf diesem oder einem benachbarten Markt tätig sein. Schließlich genügt dann die reine Akquisition des Wettbewerbers noch nicht, sondern es muss zusätzlich eine Marktstellung entstehen, die keinen hinreichenden wettbewerblichen Freiraum für andere Wettbewerber mehr zulässt. Erst dann besteht das Risiko eines Verfahrens wegen des Verbots des Missbrauchs von Marktmacht (Art. 102 AEUV). Diese Voraussetzungen müssen stets im Einzelfall geprüft werden.

(EuGH, Urteil vom 16.03.2023 - C-449/21.)

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