Reiner Formalismus bei der Massenentlassung?!
Mal wieder beschäftigt eine der zahlreichen formalen Anforderungen des Verfahrens zur Massenentlassung gem. § 17 KSchG die höchsten Gerichte und in näherer Zukunft kündigt sich damit wohl eine weitere Verschärfung ebendieser Formanforderungen an. Zum Leidwesen des Arbeitgebers.
Sachverhalt
Das BAG sollte über die Wirksamkeit einer ordentlichen betriebsbedingten Kündigung entscheiden. Der Kläger war seit 1981 bei der G GmbH beschäftigt. Im Jahr 2019 wurde über deren Vermögen das Insolvenzverfahren eröffnet und schließlich mangels erfolgreicher Sanierung die Einstellung des Geschäftsbetriebs beschlossen. Die Betriebsparteien verständigten sich darauf, das Konsultationsverfahren gemäß § 17 Abs. 2 KSchG (= Beratungen zwischen Arbeitgeber und Betriebsrat zur Vermeidung oder Milderung des Stellenabbaus) und die weiteren Beteiligungsrechte im Zusammenhang mit der Massenentlassung mit dem Interessenausgleichsverfahren zu verbinden. Im Zuge dessen erteilte die G GmbH dem Betriebsrat Auskünfte über die geplanten Entlassungen. Allerdings leitete sie der Agentur für Arbeit keine Abschrift dieser Unterrichtung zu. Stattdessen erstattete sie nach ordnungsgemäßer Betriebsratsbeteiligung eine Massenentlassungsanzeige bei der Agentur für Arbeit und sprach anschließend gegenüber sämtlichen Mitarbeitern einschließlich des Klägers Kündigungen aus. Der Kläger griff diese Kündigung unter anderem mit der Behauptung an, dass der Agentur für Arbeit nicht wie in § 17 Abs. 3 Satz 1 KSchG gefordert, die Abschrift der Mitteilung an den Betriebsrat zugeleitet wurde.
Zwischenstand
Da § 17 KSchG auf der europäischen Massenentlassungsrichtlinie beruht, hat das BAG nun mit seinem Beschluss vom 27. Januar 2022 (Az.: 6 AZR 155/21) den Gerichtshof der Europäischen Union im Wege des Vorabentscheidungsverfahrens um Beantwortung der Frage ersucht, welchem Zweck die Übermittlungspflicht nach Art. 2 Abs. 3 Unterabs. 2 der Massenentlassungsrichtlinie (MERL) dient. Maßgeblich wird dabei sein, ob diese Zuleitungsvorschrift zumindest auch dem Schutz des von einer Massenentlassung betroffenen Arbeitnehmers dient. Ist das der Fall, so würde das BAG auch § 17 Abs. 3 Satz 1 KSchG als Verbotsgesetz gemäß § 134 BGB ansehen, sodass eine Kündigung unter Verstoß gegen die Zuleitungspflicht nach § 17 Abs. 3 Satz 1 KSchG unwirksam wäre.
Einordnung
Seit der ersten diesbezüglichen Entscheidung des EuGH im Jahr 2005 ist hinsichtlich des Massenentlassungsverfahrens eine immer weiter fortschreitende Formalisierung zu beobachten. Das Anzeigeverfahren bei Massenentlassungen nach § 17 KSchG wurde ursprünglich dazu etabliert, die sozioökonomischen Auswirkungen, die durch eine Massenentlassung entstehen, abzufedern, indem sowohl der Betriebsrat, als auch die Agentur für Arbeit bereits zu einem frühen Zeitpunkt in das Prozedere des umfangreichen Stellenabbaus eingebunden werden. Die Anzeigepflicht gegenüber der Agentur für Arbeit soll dabei insbesondere gewährleisten, dass diese durch frühzeitige Information geeignete Arbeitsförderungsmaßnahmen vorbereiten kann und der örtliche Arbeitsmarkt nicht gleichsam unvorbereitet mit einer Vielzahl von neuen Arbeitslosen überfordert wird.
Vor diesem Hintergrund soll auch § 17 Abs. 3 Satz 1 KSchG eine besonders frühzeitige Einbindung der Agentur für Arbeit erreichen, indem diese gleichzeitig mit dem jeweiligen Betriebsrat (und damit noch vor der Durchführung des gesamten Konsultationsverfahrens) umfassend unterrichtet wird über die Hintergründe der geplanten Entlassungen und die voraussichtliche Zusammensetzung der davon betroffenen Arbeitnehmern.
Bisher sind sowohl die deutschen Arbeitsgerichte wie auch die juristische Literatur davon ausgegangen, dass eine Verletzung der Zuleitungspflicht nach § 17 Abs. 3 Satz 1 KSchG keine negative Auswirkungen auf die im späteren Verlauf ausgesprochenen Kündigungen hat, da die maßgebliche Unterrichtung der Agentur für Arbeit durch die Massenentlassungsanzeige selbst rechtzeitig erfolgt. Man muss sich hier tatsächlich die Frage stellen, welcher eklatante Vorteil darin zu sehen sein soll, dass die Agentur für Arbeit bereits wenige Wochen früher über die voraussichtlichen Grundlagen der geplanten Massenentlassung informiert wird. Es erscheint doch sehr abwegig anzunehmen, dass die Agentur für Arbeit bei einer nur kurzzeitig früheren Information aufgrund einer weitergeleiteten Abschrift der Betriebsratsunterrichtung effektive Maßnahmen zur Verhinderung der Arbeitslosigkeit entwickeln kann. Die Agentur für Arbeit kennt die Eigenheiten des betroffenen Betriebs in der Regel nicht, sodass fraglich ist, warum ihr gelingen sollte, woran die Betriebsparteien im Wege des Konsultationsverfahrens scheitern – nämlich Maßnahmen zur Erhaltung der Belegschaft zu finden. Weiterhin kann die Agentur für Arbeit infolge der Zuleitung der Abschrift der Betriebsratsunterrichtung noch nicht zielführend Vermittlungstätigkeiten vorbereiten, da zu diesem Zeitpunkt gerade noch nicht feststeht, ob und wann wie viele Arbeitnehmer auf den Arbeitsmarkt gelangen und welche Gruppen von Arbeitnehmern betroffen sind. Dies steht gerade erst nach der Durchführung des Konsultationsverfahrens zwischen den Betriebsparteien fest.
Obgleich daher die besseren Argumente gegen eine arbeitnehmerschützende Funktion der Zuleitungspflicht nach § 17 Abs. 3 Satz 1 BGB sprechen, ist davon auszugehen, dass der EuGH dieser Pflicht gerade einen zumindest auch den Arbeitnehmerschutz bezweckenden Inhalt zusprechen wird. Denn der EuGH ist in der Vergangenheit bereits öfter davon ausgegangen, dass Formalismen ein Arbeitnehmerschutzaspekt innewohnt.
In Folge dessen stehen die Chancen gut, dass das BAG auch einen Verstoß gegen die Zuleitungspflicht nach § 17 Abs. 3 Satz 1 KSchG aufgrund des bezweckten Arbeitnehmerschutzes als Verbotsgesetz gem. § 134 BGB einordnen wird, was zur Folge hätte, dass die daraufhin ausgesprochenen Kündigungen unwirksam sind.
Ausblick
Für Arbeitgeber bleibt daher zu befürchten, dass das Verfahren rund um die Massenentlassung um einen weiteren zwingend zu beachtenden Verfahrensschritt ergänzt wird.
Aufgrund des Risikos erheblicher Folgen für Massenentlassungen – nämlich die Gefahr der Unwirksamkeit aller innerhalb der Massenentlassung ausgesprochenen Kündigungen – sollte bereits vor einer abschließenden Entscheidung durch das BAG die Zuleitungspflicht gem. § 17 Abs. 3 Satz 1 KSchG stets beachtet werden.