Dezember 2012 Blog

Seveso II–Schutzabstände - Auswirkungen auf die Erteilung der Baugenehmigung

Ein neues Urteil des EuGH verschärft die Anforderungen an die Erteilung einer Baugenehmigung. Befindet sich ein neues Bauvorhaben mit einem großen Nutzerkreis (Büro, Einzelhandel) im Umkreis von bestehenden Betrieben, in denen gefährliche Stoffe in erheblichen Mengen vorhanden sind, so kann dies zur Unzulässigkeit des Bauvorhabens führen, obwohl es ansonsten den Vorgaben des geltenden Bauplanungsrechts entspricht.

Bisher hatten die Baugenehmigungsbehörden bei Übereinstimmung mit dem Bauplanungsrecht die Baugenehmigung als gebundene Entscheidung zu erteilen; natürlich vorbehaltlich des Vorliegens der anderen geltenden öffentlich-rechtlichen Voraussetzungen. Durch Urteil vom 15.09.2011 (C 53/10) hat der EuGH nun jedoch entschieden, dass die Pflicht zur Gewährleistung eines angemessenen Abstands von schutzbedürftigen Nutzungen zu Störfallbetrieben nach der sog. Seveso-II-Richtlinie auch für die Baugenehmigungsbehörden gilt. Angemessene Schutzabstände müssen nicht nur bei der Aufstellung eines Bebauungsplans berücksichtigt werden, sondern auch im Baugenehmigungsverfahren.

Der Entscheidung lag der Vorlagebeschluss des Bundesverwaltungsgerichts vom 03.12.2009 (4C 5.09) zur Ansiedelung eines Gartencenters in Entfernung von ca. 250 m zum Chemiewerk der Firma Merck in Darmstadt zu Grunde. Merck hatte gegen die erteilte Baugenehmigung geklagt. Obwohl für das Gartencenter ein gebundener Genehmigungsanspruch im unbeplanten Innenbereich bestand, hat der EuGH nun klargestellt, dass das Abstandserfordernis zu Störfallbetrieben in jedem Fall berücksichtigt werden muss, auch dann, wenn es - wie im vorliegenden Fall - an einer Planungsentscheidung fehlt. Bisher hatten die Kommunen die Frage von Abständen nach Maßgabe des sog. Trennungsgebots in § 50 Bundes-Immissionsschutzgesetz lediglich bei der Aufstellung von Bebauungsplänen zu berücksichtigen. Traf dieser keine Regelung und war das neue Bauvorhaben ansonsten zulässig, musste die Baugenehmigung erteilt werden.

In Zukunft muss das Trennungsgebot auch im Baugenehmigungsverfahren beachtet werden. Der EuGH hat den zuständigen Behörden bei der Festlegung der erforderlichen Abstände einen Wertungsspielraum zugestanden. Das wirft zahlreiche bislang ungeklärte Fragen auf, da den Behörden keine verbindlichen Vorgaben für angemessene Abstände zwischen der schutzbedürftigen Nutzung und dem Störfallbetrieb zur Verfügung stehen. In Betracht kommen der sog. Abstandserlass NRW oder der Leitfaden des Umweltministeriums KAS-18, die jedoch beide nur sehr eingeschränkt für die nun anstehenden Fragestellungen geeignet sind. Selbst wenn allgemein ein bestimmter Schutzabstand zwischen den Betriebsbereichen und den schutzbedürftigen Nutzungen festgelegt wäre, können im konkreten Einzelfall anhand von „ spezifischen Faktoren" Unterschreitungen dieser Abstände zugelassen werden. Der EuGH erlaubt auch die Berücksichtigung von sog. „sozioökonomischen Faktoren", d.h., dass dem städtebaulichen Interesse, auch vorhandenen Gemengelagen eine gewisse Entwicklung zu ermöglichen, Vorrang vor dem Interesse an einer Begrenzung der Folgen eines schweren Unfalls einzuräumen ist. Für die Unterschreitung müssen aber in jedem Falle hinreichende Gründe vorliegen, damit eine einfache Umgehung der an sich angemessenen Schutzabstände nicht möglich ist.

Aus alldem wird ersichtlich, wie einzelfallbezogen und unklar die derzeitige Rechtslage aufgrund der Entscheidung des EuGH ist. Der Bauherr wird einmal mehr mit Unsicherheiten über die Genehmigungsfähigkeit seines Projekts konfrontiert, die sich nicht ohne weiteres vorab anhand der geltenden Bebauungspläne oder bisher bekannten Kriterien im unbeplanten Innenbereich beurteilen lassen. Jedem Projektentwickler ist anzuraten, die nähere und weitere Umgebung um sein geplantes Vorhaben auf mögliche Störfallbetriebe zu prüfen. Dazu gehört auch die Lagerung von Gefahrstoffen, so zum Beispiel auch die jüngst zum Politikum in Frankfurt gewordene Gefahrguthalle im Frankfurter Osthafen, die die weitere Gewerbeentwicklung entlang der Hanauer Landstraße gefährdet.

(EuGH, Urteil vom 15.9.2011 - C 53/2010)
Dr. Bettina Schmitt-Rady, Rechtsanwältin

 

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