Mai 2022 Blog

Zinsen auf unions­rechtswidrig erhobene Beträge

Mit Urteil vom 28. April 2022 hat der EuGH in den verbundenen Rechtssachen C-415/20, C-419/20 und C-427/20 (Gräfendorfer) eine grundlegende Entscheidung zur Verzinsung von unionsrechtswidrig erhobenen Einfuhrabgaben, unionsrechtswidrig festgesetzten Sanktionen sowie unionsrechtswidrig vorenthaltenen Ausfuhrerstattungen gefällt.

Die Rechtsfrage

Im Grundsatz ging es in dem Verfahren um die Frage, ob der unionsrechtliche Grundsatz, dass Beträge, die unter Verstoß gegen das Unionsrecht erhoben bzw. vorenthalten wurden, im Falle ihrer Erstattung bzw. verspäteten Auszahlung ab dem Zeitpunkt ihrer rechtswidrigen Erhebung bzw. Vorenthaltung zu verzinsen sind, auch auf Konstellationen Anwendung findet, in denen nicht eine Rechtsgrundlage wegen Verstoßes gegen das Unionsrecht vom Gerichtshof für ungültig oder unanwendbar erklärt wurde, sondern Unionsrecht von den mitgliedstaatlichen Behörden fehlerhaft „lediglich“ ausgelegt und angewendet wurde.

Die bisherige Praxis

Dass eine unionsrechtliche Pflicht zur Zahlung von Zinsen auf jegliche Beträge besteht, die unter Verstoß gegen das Unionsrecht erhoben wurden – auch dann, wenn keine entsprechende Anspruchsgrundlage in den nationalen Gesetzen existiert oder die nationalen Gesetze einem derartigen Zinsanspruch sogar ausdrücklich entgegenstehen – hatte der EuGH zuvor bereits für eine Vielzahl verschiedener Geldleistungspflichten festgestellt. Die Verwaltungen der Mitgliedstaaten hatten diesen Grundsatz aber derart ausgelegt, dass dieser Grundsatz nur gelte, wenn eine nationale oder unionale Rechtsgrundlage, auf der die unionsrechtswidrige Erhebung/Festsetzung beruhte, für unionsrechtswidrig erklärt wurde. In Bezug auf zu Unrecht erhobene Einfuhrabgaben haben sie zur Begründung insbesondere auf Art. 116 Abs. 6 Unionszollkodex (UZK) abgestellt, nach dem im Falle der Erstattung von Einfuhrabgaben von den betreffenden Zollbehörden keine Zinsen zu zahlen sind.

Feststellungen des EuGH

Der EuGH hat in seiner Gräfendorfer-Entscheidung unter Verweis auf die Schlussanträge der Generalanwältin festgestellt, dass der Anwendungsbereich des Art. 116 Abs. 6 UZK auf Fälle der Zollabfertigungsverfahren beschränkt sei, in denen entweder die Zollbehörde oder ein Wirtschaftsteilnehmer kurz nach der ursprünglichen Zollabfertigung eine Anpassung der Zollabgaben verlange und diese Anpassung von beiden Parteien anerkannt werde. Wenn es jedoch zu einem Rechtsstreit kommt, fiele dieser Fall nicht unter Art. 116 Abs. 6 UZK. Stattdessen habe ein Wirtschaftsbeteiligter in derartigen Konstellationen stets einen Anspruch auf Verzinsung von Beträgen, die unter Verstoß gegen Unionsrechts erhoben bzw. vorenthalten worden seien und zwar ab dem Zeitpunkt der unionsrechtswidrigen Erhebung bzw. Vorenthaltung. Eine nationale Regelung, die die Zahlung nur für den Zeitraum ab Einlegung eines gerichtlichen Rechtsbehelfs bis zum Zeitpunkt der Erstattung bzw. Auszahlung vorsehe (wie § 236 Abgabenordnung) sei mit unionsrechtlichen Grundsätzen nicht vereinbar.

Hinweis für die Praxis

Wirtschaftsbeteiligte sollten daher in allen Fällen, in denen ihnen nach Durchführung eines Rechtsstreits unionsrechtswidrig erhobene Beträge erstattet oder unionsrechtswidrig vorenthaltene Beträge ausgezahlt werden, stets einen Antrag auf Verzinsung stellen und zwar ab dem Zeitpunkt der Entrichtung bzw. Vorenthaltung. Dies gilt auch, dann, wenn es nicht zu einem Gerichtsverfahren gekommen ist, sondern dem Einspruch bereits im Verwaltungsverfahren abgeholfen wurde.

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