Zum Einsichtsrecht eines ehemaligen Vorstandsmitglieds in Unterlagen der Gesellschaft
Gemäß § 810 BGB haben ausgeschiedene Vorstandsmitglieder das Recht, zur Rechtsverteidigung Einsicht in die Geschäftsunterlagen der Gesellschaft zu nehmen. Im Rahmen des „Wirecard-Schadenersatzprozesses“ hat nun das LG München I Anforderungen und Umfang dieses Informationsrechts konturiert.
Problemstellung
Werden von der Gesellschaft gegen ehemalige Vorstandsmitglieder aktienrechtliche Schadensersatzansprüche geltend gemacht, liegt die Darlegungs- und Beweislast dafür, dass das Vorstandsmitglied pflichtgemäß gehandelt hat, bei diesem. Dies kann u.a. deshalb misslich sein, weil der in Anspruch Genommene regelmäßig keinen Zugriff mehr auf möglicherweise entlastende Geschäftsunterlagen hat. Dass hier das in § 810 BGB normierte Einsichtsrecht helfen kann, gehört zum kleinen Einmaleins der Verteidigungsstrategie beklagter Vorstandsmitglieder. In der Praxis unklar scheinen aber selbst in medienwirksamen Großverfahren die Voraussetzungen einer Ausübung und auch der Umfang des genannten Einsichtsrechts zu sein. Dies hat erst jüngst der „Wirecard-Schadenersatzprozess gezeigt, in welchem der Insolvenzverwalter der Wirecard AG u.a. gegen ehemalige Vorstandsmitglieder Schadensersatzansprüche in Höhe von EUR 140 Mio. geltend gemacht hat.
Umfang des Einsichtsrechts
In jenem vom LG München I zu entscheidenden Fall hatte eines der beklagten ehemaligen Vorstandsmitglieder – zunächst den Anforderungen des § 810 BGB entsprechend – die betreffenden Unterlagen im Rahmen des ihm Zumutbaren und Möglichen hinreichend konkretisiert und daraufhin auch die Möglichkeit zur Einsicht erhalten.
Darüber hinaus aber verlangte der Beklagte, zu seiner Entlastung auch ehemalige Mitarbeiter der Gesellschaft befragen zu können. Zu Unrecht, wie das LG München I befand. Der aus § 810 BGB oder als nachwirkende Treuepflicht aus § 242 BGB folgende Informationsanspruch des ehemaligen Vorstandmitglieds richte sich gegen die Gesellschaft, nicht aber gegen Dritte. Zudem stünde eine solche, nicht näher konkretisierte Befragung Dritter im Widerspruch zu allgemeinen Grundsätzen des Zivilprozesses, dem ein Ausforschungsbeweis fremd sei, was sich im Übrigen gerade auch aus § 810 BGB ergebe. Denn nach höchstrichterlicher Rechtsprechung gewährt diese Norm gerade keinen Anspruch auf Einsicht in komplette Akten, Urkundensammlungen oder in sämtliche einen bestimmten Vertrag betreffende Schriftstücke. Vielmehr sei der für die Voraussetzungen einer Einsichtsgewährung darlegungs- und beweispflichtige Anspruchsteller gehalten, sein rechtliches Interesse, die konkrete Urkunde und deren angeblichen Inhalt genau zu bezeichnen. Entsprechendes folge auch aus § 424 ZPO, der die inhaltlichen Anforderungen eines Antrags auf Vorlage einer Urkunde durch den Gegner im Zivilprozess konkretisiere.
Wegen mangelnder Konkretisierung derjenigen Unterlagen, die eingesehen werden sollten, blieb daher auch ein Antrag auf Einsichtnahme eines weiteren ehemaligen Vorstandsmitglieds prozessual folgenlos: Dieses hatte pauschal auf einen (vermeintlichen) Anspruch auf Einsicht in die zu seiner Verteidigung erforderlichen Unterlagen verwiesen. Ein derart unkonturiertes und weitreichendes Auskunftsverlangen verletze den zivilprozessualen Grundsatz, wonach erstens keine Prozesspartei gehalten ist, dem Gegner das Material zu dessen Obsiegen im Prozess zu verschaffen und zweitens die Gewährung materiell-rechtlicher Auskunftsansprüche die vorgegebene Darlegungs- und Beweislast im Prozess nicht unzulässig verändern darf.
Anmerkung
Voraussetzungen und Umfang von Einsichtsrechten spielen in der gerichtlichen Praxis eine große Rolle, wie auch der vorliegende Fall zeigt. Im Rahmen der Vorstandshaftung ergibt sich die besondere Relevanz des Einsichtsrechts daraus, dass die ehemaligen Vorstandsmitglieder zum einen keinen Zugriff mehr auf Geschäftsunterlagen haben („Verlust der Beweisnähe“), andererseits aber wegen der Beweislastverteilung des § 93 Abs. 2 S. 2 AktG darlegen und beweisen müssen, dass sie nicht pflichtwidrig und schuldhaft gehandelt haben. Dem entspricht, dass der Umfang der einzusehenden Unterlagen sich nach eben dieser Beweislast bestimmt, sodass nur diejenigen konkret benannten Unterlagen von dem Recht auf Einsichtnahme erfasst sind, die mit der pflichtgemäßen Sorgfalt und dem Verschulden des ehemaligen Vorstandsmitglieds in Verbindung stehen. Dass vor diesem Hintergrund die beiden Einsichts- bzw. Informationsverlangen abzulehnen waren, lag also auf der Hand.
Nach Lektüre der Urteilsbegründung überrascht daher, wie unbedarft offenbar im konkreten Fall seitens der Beklagten mit der Dogmatik des § 810 BGB bzw. des Einsichtsrechts aus § 242 BGB („nachwirkende Treuepflicht“) einerseits, und mit grundlegenden ZPO-Prinzipien andererseits umgegangen wurde – auch wenn hier für die Beklagten möglicherweise ohnehin „nichts zu holen“ gewesen sein dürfte.
(LG München I Teilurteil v. 5.9.2024 – 5 HK O 17452/21)