Männliches Verhandlungsgeschick kein Grund für bessere Bezahlung
Das Bundesarbeitsgericht (BAG) hat mit Urteil vom 16. Februar 2023 (8 AZR 450/21) einer Außendienstmitarbeiterin im Vertrieb, die rund 1.000,- EUR weniger verdient hatte als ihr ebenfalls im Außendienst beschäftigter Kollege, die Gehaltsdifferenz zugesprochen – nebst pauschaler Entschädigung in Höhe von rund 15 % des Differenzbetrages. Damit hat es das Urteil des Sächsischen Landesarbeitsgerichts (LAG) aufgehoben, das die Klage noch vollumfänglich abgewiesen hatte.
Gestützt hat sich das BAG auf ein Urteil aus dem Jahr 2021: Danach galt bereits: „Stellen die Gerichte einen Verstoß gegen den Grundsatz des gleichen Entgelts für Männer und Frauen bei gleicher oder gleichwertiger Arbeit fest, müssen sie […] auf Zahlung der gleichheitswidrig vorenthaltenen Vergütung erkennen.“ Dass eine geringere Bezahlung eine (widerlegbare) Vermutung einer Diskrimierung darstellt, schreibt wiederum das seit 2017 geltende Entgelttransparenzgesetz vor. Insofern ist das Urteil vom 16. Februar 2023 also noch kein Meilenstein.
Neu ist jedoch, dass individuelles Verhandlungsgeschick kein rechtfertigender Grund einer besseren Bezahlung für gleiche Tätigkeit sein kann. Eine tarifvertragliche Deckelung findet ebenfalls keine Anwendung, wenn die Gehaltsdifferenz – wie im Streitfall – rechtswidrig war. Es kommt also entscheidend auf die Gehaltsgleichheit im Einzelfall an.
Einzelheiten werden erst mit Veröffentlichung der Urteilsgründe bekannt. Einiges steht jedoch heute bereits fest:
- Frauen und Männer haben Anspruch auf gleiches Entgelt für gleiche oder vergleichbare Arbeit.
- Arbeitnehmer (und der Betriebsrat) können Gehaltsdifferenzen nach dem Entgelttransparenzgesetz (EntgTranspG) transparent machen. Lohndifferenzen können nicht mehr mit „Verhandlungsgeschick“ gerechtfertigt werden.
- Neben entgangenem Lohn kann eine Entschädigung zugesprochen werden. Im Streitfall entsprach sie rund 15 % des nachzuzahlenden Lohns. Bei einer durchschnittlichen Geschlechtergehaltsdifferenz von 10.000,- EUR pro Jahr sind also in einem paritätisch besetzten 100-Personen-Betrieb rund 600.000,- EUR an Rückstellungen zu bilden - pro Beschäftigungsjahr und zuzüglich Zinsen.
Es spricht viel dafür, dass das Urteil sich auf fehlende Rechtfertigungsgründe stützt, und an den geltenden Beweislastregeln nichts grundlegendes geändert hat, aber insoweit bleibt freilich die Urteilsbegründung abzuwarten:
- Bisher gilt: Steht eine Entgeltdifferenz fest (das muss die benachteiligte Arbeitnehmerin beweisen), hat der Arbeitgeber im sogenannten Vollbeweis Tatsachen vorzutragen, die beweisen, dass ausschließlich andere Gründe als das Geschlecht zur Entgeltdifferenz geführt haben.
- Das Geschlecht allein wird (weiterhin) kein taugliches Differenzierungskriterium mehr für eine schlechtere Bezahlung sein. Manches spricht sogar dafür, dass die längere Berufserfahrung und also das Dienstalter nicht mehr per se als Rechtfertigung einer höheren Bezahlung dienen.
Das praktische Prüfungsprogramm für heute steht damit jedoch schon fest:
- Der Betriebsrat (bzw. der Betriebsausschuss) hat gem. § 13 EntgTranspG Auskunftsrechte. Der Arbeitgeber hat dem Betriebsausschuss Einblick in die Listen über die Bruttolöhne und -gehälter der Beschäftigten zu gewähren und diese aufzuschlüsseln. Die Entgeltlisten müssen nach Geschlecht aufgeschlüsselt alle Entgeltbestandteile enthalten einschließlich übertariflicher Zulagen und solcher Zahlungen, die individuell ausgehandelt und gezahlt werden.
- Beschäftigte haben Anspruch auf Auskunft und wohl auch auf Mitteilung sachgerechter Differenzierungsgründe.
- Können solche nicht genannt werden – das Gesetz nennt beispielhaft die Art der Arbeit, die Ausbildungsanforderungen und die Arbeitsbedingungen – muss mit einer Nachzahlung gerechnet werden.
- Vertragliche Ausschlussfristen werden damit wichtiger denn je. Die Entgeltdifferenz unterliegt keinen gesetzlichen Ausschlussfristen, vertraglich vereinbarte Ausschlussfristen gelten aber (anders als beim Mindestlohn) ebenso wie die Verjährungsfristen.
Die Politik macht ernst, nicht nur im Vorstand („stay on board“), sondern auch im Normalarbeitsverhältnis, und die Rechtsprechung setzt um, indem sie alther(ren)gebrachten Argumentationsmustern („er hat besser verhandelt“, „er hält härtere Bedingungen aus“ etc.) den Boden entzieht. Ein weiteres Beispiel für die zunehmende Durchdringung auch des Arbeitsrechts von politischen Vorgaben und Zielen, in diesem Fall: Der Gehaltsgerechtigkeit und des Endes des gender pay gap.
Unternehmen tun gut daran, ihre Vergütungssysteme kritisch zu hinterfragen und Lösungen anzubieten, auch unterhalb von 500 Mitarbeitern und betrieblichem Prüfverfahren.