EuGH erklärt investitionskontrollrechtliche Untersagung für unzulässig
Die Zweite Kammer des Europäischen Gerichtshofes (EuGH) hat sich am 13. Juli 2023 auf Vorlage des Hauptstädtischen Gerichtshofs Ungarns (Fővárosi Törvényszék) in einem Vorabentscheidungsverfahren nach Art. 267 AEUV mit den Anforderungen an eine investitionskontrollrechtliche Untersagung auseinander gesetzt und sich in diesem Zuge auch zum Anwendungsbereich der Verordnung (EU) 2019/452 vom 19. März 2019 zur Schaffung eines Rahmens für die Überprüfung ausländischer Direktinvestitionen in der Union („EU Screening Verordnung“) geäußert. Das Urteil des EuGHs (EuGH, Urteil vom 13. Juli 2023 – Rs. C-106/22) ist für Investoren eine gute Nachricht.
Der Sachverhalt
Xella Magyarország („Xella“) ist ein ungarischer Hersteller von Betonbauelementen und Teil eines sich über zahlreiche Jurisdiktionen erstreckenden internationalen Konzerns. Die Dachgesellschaft des Konzerns ist in Bermuda ansässig. Letztlich steht der Konzern im Eigentum eines irischen Staatsangehörigen. Xella beabsichtigt, sämtliche Anteile an der ungarischen Bergbaugesellschaft Janes és Társa zu erwerben, die Kies, Sand und Ton in einem Steinbruch im Nordwesten Ungarns abbaut. Xella ist der wichtigste Kunde der Zielgesellschaft: 90 % ihrer Produktion, die einen regionalen Marktanteil von 20,77 % und einen nationalen Marktanteil von 0,52 % ausmacht, nimmt Xella ab und verarbeitet die abgenommenen Rohstoffe zu Kalksandsteinen.
Der zuständige Minister für Innovation und Technologie Ungarns untersagte den Erwerb nach dem ungarischen Investitionskontrollregime unter anderem mit der Begründung, Xella stehe mittelbar im Eigentum einer in Bermuda ansässigen Gesellschaft. Sollte Janes és Társa in das mittelbare Eigentum einer ausländischen Gesellschaft übergehen, stelle dies ein langfristiges Risiko für die Sicherheit der Rohstoffversorgung im Bausektor dar. Die Sicherheit und Berechenbarkeit der Rohstoffgewinnung und –versorgung seien aber von strategischer Bedeutung. Xella erhob daraufhin Klage gegen den Untersagungsbescheid.
Der mit der Sache befasste Hauptstädtische Gerichtshof setzte das Verfahren aus und legte dem EuGH zwei Fragen zur Vorabentscheidung vor, von denen letztlich nur eine beantwortet werden musste. Mit der Frage ersucht das ungarische Gericht den EuGH im Wesentlichen um Klarstellung, ob es EU-Mitgliedstaaten möglich ist, den Erwerb von als strategisch angesehenen inländischen Gesellschaften mit der Begründung zu verbieten, der Erwerb bedrohe das Interesse des Staates an der Gewährleistung der Versorgungssicherheit zugunsten des Bausektors auf lokaler Ebene und in Bezug auf Grundstoffe wie Kies, Sand und Ton, wenn der unmittelbare Erwerber ebenfalls eine inländische Gesellschaft ist, aber zu einem Konzern gehört, in dem eine in einem Drittstaat ansässige Gesellschaft bestimmenden Einfluss hat.
Entscheidung des EuGHs
Der EuGH stellte fest, dass Xella sich gemäß Art. 54 AEUV auf die Niederlassungsfreiheit berufen könne und die Untersagung des streitgegenständlichen Erwerbs eine ungerechtfertigte Beschränkung der Niederlassungsfreiheit darstelle.
Einlassungen des EuGHs zum Anwendungsbereich der EU Screening Verordnung
Die Formulierung der Vorlagefrage, die ausdrücklich die Erwägungsgründe 4 und 6 der EU Screening Verordnung anführt, gab dem EuGH die Gelegenheit, sich zum Anwendungsbereich der EU Screening Verordnung zu äußern.
Mit der EU Screening Verordnung hat die EU im Jahre 2019 einen Kooperationsmechanismus geschaffen, der im Wesentlichen darauf abzielt, die Koordinierung, Zusammenarbeit und Kommunikation bei der Überprüfung ausländischer Direktinvestitionen sicherzustellen, um z.B. zu gewährleisten, dass Mitgliedstaaten sich unter Beteiligung der Kommission gegenseitig informieren, wenn eine ausländische Direktinvestition in einem Mitgliedstaat die Sicherheit oder öffentliche Ordnung in anderen Mitgliedstaaten beeinträchtigen könnte.
Der EuGH entschied, dass der Anwendungsbereich der EU Screening Verordnung auf Investitionen in der EU beschränkt sei, „die von nach dem Recht eines Drittstaates gegründeten oder anderweitig errichteten Unternehmen getätigt werden.“ Die EU Screening Verordnung sei grundsätzlich nicht auf Sachverhaltskonstellationen anwendbar, in denen der unmittelbare Erwerber eine EU-Gesellschaft ist. Dabei spiele die Eigentümerstruktur des unmittelbaren Erwerbers keine Rolle.
Die Feststellung des EuGHs zum Anwendungsbereich der EU Screening Verordnung ist für die M&A-Praxis von besonderem Interesse. Der mit der EU Screening Verordnung geschaffene Kooperationsmechanismus entfällt demnach nämlich vollständig, wenn der unmittelbare Erwerber eine EU-Gesellschaft ist. Konstellationen, in denen z.B. Chinesische oder U.S.-Amerikanische Investoren mittelbar durch eine EU-Gesellschaft in eine andere EU-Gesellschaft investieren, unterliegen also nicht dem Kooperationsmechanismus der EU Screening Verordnung.
Investitionskontrollverfahren, bei denen der unmittelbare Erwerber eine EU-Gesellschaft ist, könnten in Zukunft möglicherweise schneller zum Abschluss gebracht werden, da der EU-Kooperationsmechanismus wegfiele. Denkbar ist indes auch, dass nationale Behörden sich nunmehr häufiger auf den Standpunkt stellen, die Investition durch eine EU-Gesellschaft, die ihrerseits von Nicht-EU-Gesellschaftern kontrolliert wird, sei eine Umgehung der Überprüfungsmechanismen (Art. 3 Abs. 6 EU Screening Verordnung) und der Anwendungsbereich der EU Screening Verordnung daher ausnahmsweise doch wieder eröffnet. Gerade im Falle von sog. Anlagevehikeln, also EU-Gesellschaften die einzig zu dem Zweck einer konkreten Investition gegründet werden, könnten nationale Behörden in Zukunft vermehrt eine Umgehung sehen. Im Falle von unmittelbaren Erwerbern, die operativ tätig sind, dürfte dieses Risiko demgegenüber geringer sein.
Möglich ist auch, dass die Kommission das Urteil des EuGHs zum Anlass nimmt, den Anwendungsbereich der EU Screening Verordnung zu erweitern. Gelegenheit hätte sie hierzu schon bald: Derzeit wird die EU Screening Verordnung evaluiert und die Kommission wird Ende des Jahres 2023 einen Bericht vorlegen, der auch Vorschläge zur Änderung der EU Screening Verordnung enthalten könnte.
Entscheidung des EuGHs zur Vereinbarkeit der Untersagung der Investition mit der Niederlassungsfreiheit
Gesellschaften, die die Staatszugehörigkeit eines EU-Mitgliedstaates besitzen (d.h. nach den Rechtsvorschriften eines EU-Mitgliedstaats gegründet wurden und ihren satzungsmäßigen Sitz, ihre Hauptverwaltung oder ihre Hauptniederlassung innerhalb der Union haben) können sich nach den Feststellungen des EuGHs unabhängig vom Sitz ihrer unmittelbaren oder mittelbaren Gesellschafter auf die Niederlassungsfreiheit berufen. Die Untersagung eines Anteilserwerbs aufgrund nationaler investitionskontrollrechtlicher Vorschriften ist eine Beschränkung der Niederlassungsfreiheit im Sinne von Art. 49 AEUV. Gemäß Art. 52 Abs. 1 AEUV kann eine Beschränkung der Niederlassungsfreiheit aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit jedoch gerechtfertigt sein.
In seinem Urteil verweist der EuGH auf seine ständige Rechtsprechung, nach der rein wirtschaftliche Gründe, die mit der Förderung der nationalen Wirtschaft oder deren gutem Funktionieren verbunden sind, keine Beeinträchtigungen der Grundfreiheiten, einschließlich der Niederlassungsfreiheit, rechtfertigen. Wirtschaftliche Erwägungen könnten aber einen zwingenden Grund des Allgemeininteresses darstellen und eine Beschränkung der Grundfreiheiten somit rechtfertigen, wenn mit ihnen ein im Allgemeininteresse liegendes Ziel verfolgt wird. Die öffentliche Ordnung und Sicherheit kann als Begründung der Beschränkung der Grundfreiheiten nur herangezogen werden, wenn eine tatsächliche und hinreichend schwere Gefährdung vorliegt, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt. Dabei kann die Gefährdung sich grundsätzlich auch auf die Versorgungssicherheit beziehen.
Ob eine mögliche Gefährdung der Versorgungssicherheit die Untersagung einer Investition tatsächlich rechtfertigt, ist im Einzelfall zu entscheiden und hängt zumindest auch von dem betroffenen Sektor ab. Die Sicherstellung der Versorgung mit Gemeinwohldienstleistungen in den Bereichen Erdöl, Telekommunikation oder Elektrizität hat der EuGH bereits in der Vergangenheit als Grund der öffentlichen Sicherheit anerkannt, mit dem eine Beeinträchtigung der Grundfreiheiten gegebenenfalls zu rechtfertigen ist. Anders sei es aber, so nun der EuGH, wenn es um die Versorgung des Bausektors auf lokaler Ebene mit Grundrohstoffen wie Kies, Sand und Ton geht. Ein Grundinteresse der Gesellschaft sei hier nicht betroffen. Daher sei die streitgegenständliche Untersagung des ungarischen Ministers für Innovation und Technologie mit der Niederlassungsfreiheit nicht vereinbar.
Dass der EuGH die Mitgliedstaaten an seine Rechtsprechung zu den Voraussetzungen für die Rechtfertigung einer Beschränkung der Niederlassungsfreiheit in deutlichen Worten erinnert, dürfte für Investoren und Veräußerer eine gute Nachricht sein. Der EuGH macht damit deutlich, dass Untersagungen ausländischer Direktinvestitionen, die unmittelbar durch eine EU-Gesellschaft vorgenommen werden, sich an hohen Maßstäben messen lassen müssen.