Keine gerichtliche Ergänzungsbefugnis bei boykottierter Beschlussfähigkeit des Aufsichtsrats
Was tun, wenn ein Aufsichtsratsmitglied die Beschlussfähigkeit des Aufsichtsgremiums torpediert, in dem es Sitzungen wegen unliebiger Beschlussfassungen fernbleibt? Nach dem BGH kommt eine gerichtliche Ergänzungsbefugnis jedenfalls nicht in Betracht.
Sachverhalt
Der Aufsichtsrat der nicht mitstimmungspflichtigen X-AG bestand – satzungsgemäß – aus drei Personen (A, B und C). Die Satzung sah für die Beschlussfähigkeit Anwesenheit aller drei Mitglieder vor. Im Zusammenhang mit einer geplanten Beschlussfassung über die Geltendmachung einer Forderung der X-AG gegenüber einer Erbengemeinschaft, der auch C und ihre Kinder angehörten, verweigerte C mehrfach die Teilnahme an den entsprechenden Aufsichtsratssitzungen und führte damit regelmäßig die Beschlussunfähigkeit des Organs herbei. Einzige Aktionäre der X-AG waren die D-KG sowie die E-KG, deren Gesellschafter die Kinder der C waren. Um die Beschlussfähigkeit des Aufsichtsrats herzustellen, beantragten der Vorstand der X-AG sowie A und B gemäß § 104 Abs. 1 Aktiengesetz (AktG) die gerichtliche Bestellung eines weiteren Aufsichtsratsmitglieds. Das Amtsgericht – Registergericht – sowie das Beschwerdegericht lehnten dies ab: § 104 Abs. 1 AktG sei nicht einschlägig, da der Aufsichtsrat der X-AG die zur Beschlussfähigkeit erforderliche Zahl an Mitgliedern aufweise. Auch eine analoge Anwendung der Norm scheide aus.
Entscheidung
Der Bundesgerichtshof (BGH) schloss sich dem an.
§ 104 Abs. 1 AktG nicht einschlägig
§ 104 Abs. 1 AktG setzt voraus, dass dem Aufsichtsrat die zur Beschlussfassung erforderliche Anzahl von Mitgliedern nicht angehört. Dies sei vorliegend aber nicht der Fall: A, B und C seien wirksam bestellte Mitglieder des Aufsichtsrats und dieser daher beschlussfähig besetzt. Zwar falle unter § 104 Abs. 1 AktG auch der Fall einer dauerhaften Amtsverhinderung eines Aufsichtsratsmitglieds etwa wegen rechtlicher, wie die Vertretung eines Vorstandsmitglieds nach § 105 Abs. 2 Satz 1 AktG, oder tatsächlicher Verhinderung, etwa infolge Krankheit, Unerreichbarkeit oder eines dauerhaften Interessenkonflikts. Auch diese Voraussetzungen lägen aber nicht vor: Der danach vorliegend einzig in Betracht zu ziehende Interessenkonflikt sei gerade nicht dauerhaft, sondern lediglich punktueller Natur.
Keine analoge Anwendung
Der BGH erteilte auch einer in der aktienrechtlichen Literatur vielfach geteilten Auffassung eine Absage, wonach § 104 Abs. 1 AktG auf Fälle eines bewusst obstruktiven Verhaltens eines Aufsichtsratsmitglieds entsprechend anzuwenden sei.
Ein dauerhaftes Boykottverhalten des Aufsichtsratsmitglieds könne mit einer dauerhaften rechtlichen oder tatsächlichen Verhinderung bereits deshalb nicht gleichgesetzt werden, da es jederzeit beendet werden könne. Im Übrigen sei eine gerichtliche Ergänzung des Aufsichtsrats ohnehin nicht geeignet, die durch das obstruierende Aufsichtsratsmitglied herbeigeführte Situation rechtssicher aufzulösen. Denn gemäß § 104 Abs. 6 AktG erlischt das Amt des gerichtlich bestellten Aufsichtsratsmitglieds, sobald der Mangel behoben ist. Das obstruktive Aufsichtsratsmitglied habe es damit in der Hand, durch sein Erscheinen zur Aufsichtsratssitzung nach der gerichtlichen Ersatzbestellung die Beschlussfähigkeit des Gremiums wieder herbeizuführen, was zum Amtsverlust des gerichtlich bestellten Aufsichtsratsmitglieds führe. Es bedürfte dann einer erneuten gerichtlichen Ersatzbestellung, wenn das Aufsichtsratsmitglied zu seinem obstruktiven Verhalten zurückkehrt.
Eine analoge Anwendung des § 104 Abs. 1 AktG scheide aber auch deshalb aus, weil das Aktiengesetz auch für den hier vorliegenden Fall Lösungen bereit halte. Es fehle daher auch an der erforderlichen planwidrigen Regelungslücke. So könnten gemäß § 103 Abs. 1 Satz 1 AktG Aufsichtsratsmitglieder im Rahmen einer Hauptversammlung jederzeit mit einer qualifizierten Mehrheit abberufen werden. Dies sei zwar im vorliegenden Fall wohl ein kaum gangbarer Weg, weil die Töchter der C als mittelbare Aktionäre der X-AG hiervon keinen Gebrauch machen dürften. Dies allein rechtfertige jedoch nicht eine derart einzelfallbezogene analoge Anwendung einer Rechtsnorm.
Weg über § 103 Abs. 3 Satz 1 AktG
Gelöst werden könne der Konflikt, so der BGH, über § 103 Abs. 3 Satz 1 AktG, wonach das Gericht auf Antrag des Aufsichtsrats ein Mitglied bei Vorliegen eines wichtigen Grundes abzuberufen hat. Der Aufsichtsrat beschließe über die Antragstellung mit einfacher Mehrheit, § 103 Abs. 3 Satz 2 AktG. Ein solcher Beschluss könne auch in einem dreiköpfigen Aufsichtsrat ohne Teilnahme des boykottierenden Aufsichtsratsmitglieds an der Abstimmung mit den Stimmen der beiden anderen Aufsichtsratsmitglieder wirksam gefasst werden. Zwar müssen nach § 108 Abs. 2 Satz 3 AktG in jedem Fall drei Mitglieder des Aufsichtsrats an einer Beschlussfassung teilnehmen, weshalb dem Wortlaut nach bei einem dreiköpfigen Aufsichtsrat das obstruktive Aufsichtsratsmitglied durch seine Nichtteilnahme eine wirksame Beschlussfassung tatsächlich verhindern könne. Dem boykottierenden Mitglied sei es jedoch verwehrt, sich auf diese formale Rechtsposition zu berufen, wonach der Aufsichtsrat als Organ aufgrund seiner Nichtteilnahme beschlussunfähig sei. Denn ein Aufsichtsratsmitglied, gegen das ein Abberufungsverfahren nach § 103 Abs. 3 AktG eingeleitet werden soll, unterliege bei der Abstimmung einem Stimmverbot. Das betreffende Mitglied missbrauche daher seine formale Rechtsposition, wenn es sich auf die durch sein eigenes schuldhaftes Fernbleiben verursachte Beschlussunfähigkeit beruft, um so den Beschluss über den erforderlichen Antrag nach § 103 Abs. 3 Satz 1 AktG zu vereiteln. § 108 Abs. 2 Satz 3 AktG sei deshalb in einem Fall des zielgerichteten Rechtsmissbrauchs dahingehend teleologisch zu reduzieren, dass der Antrag nach § 103 Abs. 3 AktG auch dann zulässig ist, wenn bei der Beschlussfassung nur die zwei übrigen Aufsichtsratsmitglieder mitgewirkt haben, der Aufsichtsrat also an sich beschlussunfähig war.
Anmerkung und Praxistipp
Dogmatisch betrachtet ist die Entscheidung des BGH stringent und zutreffend. Dabei fällt einmal mehr auf, dass auch in einem vom Ansatz „übersichtlichen Fall“ eine Vielzahl an Problemen stecken kann, wie die Ausführlichkeit der Begründung erkennen lässt.
Fraglich ist jedoch, ob der der vom BGH aufgezeigte Weg über § 103 Abs. 3 Satz 1 AktG im vorliegenden Fall im Ergebnis wirklich entscheidend weiterhelfen kann. Denn Würde C als Mitglied des Aufsichtsrats vom Gericht abberufen, fehlte dem Gremium ein Mitglied zur Beschlussfähigkeit. Da die Töchter der dann abberufenen C als „mittelbare Aktionäre“ der X-AG das Geschehen auf einer anzuberaumenden Hauptversammlung zur Wahl des dritten Aufsichtsratsmitglieds bestimmen dürften, könnten sie erneut ein „unwilliges“ Mitglied berufen mit dem Ergebnis, dass sich das gesamte Geschehen insoweit wiederholen könnte.
Was also tun? In der nicht mitstimmungspflichtigen Aktiengesellschaft ließe sich die beschriebene Problematik eines boykottierenden Aufsichtsratsmitglieds in „normalen Fallkonstellationen“ wohl durch eine moderate Erweiterung der Mitgliederzahl im Aufsichtsrat entschärfen lassen. So könnte in der Satzung – bei Beibehaltung der Beschlussfähigkeit im Fall von drei anwesenden Mitgliedern – eine Erweiterung der Mitgliederzahl auf vier Aufsichtsratsmitglieder vorgesehen werden. Auch ein solcher Schachzug dürfte jedoch in einer extremen Konstellation wie der vorliegenden, in der die Aktionäre der Aktiengesellschaft mittelbar selbst nachteilig von einer unliebigen Beschlussfassung des Aufsichtsrats betroffen wären, nicht zwingend weiterhelfen, da diese „ihre“ Mitglieder wohl handverlesen auswählen und im Zweifel auch von einer Abberufung eines „ausscherenden“ Mitglieds Gebrauch machen dürften.
Letztlich könnte sich die Entscheidung daher doch als weise herausstellen: Denn den Konflikt über die Geltendmachung von Forderungen auch gegen „nahe stehende Personen“ hat zunächst originär die Gesellschaft zu lösen, nicht ein Gericht. Letzteres mag im Nachgang über die Rechtmäßigkeit eines etwaigen Fallen-Lassens der in Rede stehenden Forderung urteilen. Die Entscheidung über den geschäftspolitischen Umgang mit der genannten Problematik obliegt dem Gericht jedoch nicht.
(BGH, Beschluss vom 9. Januar 2024 - II ZB 20/22)