Nachbarschutz bei Festsetzungen zum Maß der baulichen Nutzung – vom Wannsee nach Blankenese
Nach dem Paukenschlag der „Wannsee-Entscheidung“ des Bundesverwaltungsgerichts (BVerwG) im letzten Jahr, mit welcher Festsetzungen eines Bebauungsplans zum Maß der baulichen Nutzung erstmals generell drittschützende Wirkung zugebilligt wurde, hat sich nun das Hamburgische Oberverwaltungsgericht (OVG) zum Drittschutz solcher Festsetzungen geäußert und eine Abkehr vom hergebrachten System des Nachbarschutzes eingeleitet.
Die rechtliche Ausgangslage
Seit langem galt nach der Rechtsprechung des BVerwG und der Obergerichte, dass Festsetzungen zum Maß der baulichen Nutzung und zur überbaubaren Grundstücksfläche grundsätzlich keine drittschützende Wirkung zukommt. Dies hatte zur Folge, dass selbst rechtswidrige Baugenehmigungen mit Blick auf das Maß der baulichen Nutzung oder der überbaubaren Grundstücksfläche vom Nachbarn nicht angegriffen werden konnten. Etwas anderes sollte nur dann gelten, wenn der Bebauungsplan den entsprechenden Festsetzungen ausnahmsweise eine drittschützende Wirkung beimessen wollte. So etwa in Fällen, in denen sich aus der Begründung des Bebauungsplans ergibt, dass die konkrete Maßfestsetzung jedenfalls auch dem Schutz der Nachbarn dienen sollte. Darüber hinaus konnte der Nachbar Baugenehmigungen nur dann erfolgreich anfechten, wenn er „unzumutbar“ in seinen Interessen verletzt wurde (sog. Rücksichtnahmegebot), was in der Praxis eine sehr hohe Hürde darstellt. Dieses tradierte System des Nachbarschutzes wurde erstmals durch die Wannsee-Entscheidung auf den Kopf gestellt. Das Bundesverwaltungsgericht hatte hier ausgeführt, dass auch in Fällen, in denen der Plangeber seinen Festsetzungen keine Drittschutz beimessen wollte, gleichwohl Drittschutz anzunehmen sei, wenn die Maßfestsetzungen nach der Konzeption des Plangebers in einem wechselseitigen, die Planbetroffenen zu einer rechtlichen Schicksal verbindenden Austauschverhältnis stünden.
Die Entscheidung
Das OVG Hamburg hat diese Wannsee-Entscheidung aufgegriffen und fortgeführt. In dem der Entscheidung zugrundeliegenden Sachverhalt ging es um ein Bauvorhaben am Elbhang in Hamburg-Blankenese. Der für das Gebiet geltende Bebauungsplan setzt das Gebiet als Allgemeines Wohngebiet mit an dem Bestand orientierten Baufenstern und konkreten Vorgaben zur Zahl der Vollgeschosse fest. Zugleich sind in dem Bebauungsplan auch Erhaltungsbereiche nach § 172 BauGB festgesetzt. Dem Bauherrn wurde von dem zuständigen Bezirksamt eine Baugenehmigung zur Errichtung eines Wohnhauses erteilt. Die Baugenehmigung enthielt zugleich eine Befreiung zur Überschreitung der überbaubaren Grundstücksfläche durch einen Abstellraum. Gegen die Baugenehmigung erhob sein Nachbar Widerspruch und leitete zugleich ein einstweiliges Rechtsschutzverfahren ein.
Nachdem das Verwaltungsgericht Hamburg – unter Bezugnahme auf die oben dargestellte tradierte Rechtsprechung - den Antrag des Nachbarn im Eilverfahren ablehnte, weil keine nachbarschützende Festsetzungen betroffen seien, erhob der Nachbar Beschwerde zum OVG Hamburg. Das OVG änderte den Beschluss des Verwaltungsgerichts ab und gab dem Antrag des Nachbarn statt. Zur Begründung führt das OVG in Anlehnung an die Wannsee-Entscheidung aus, dass – je nach den Umständen des Falls – auch Festsetzungen zur überbaubaren Grundstücksfläche und zum Maß der baulichen Nutzung Teil eines Austauschverhältnisses seien, wenn mit ihnen die spezifische Qualität des Plangebiets und damit ein bestimmter Gebietscharakter geschaffen werden solle. Dies setze eine konzeptionelle Einbindung derartiger Festsetzungen in den Bebauungsplan voraus. In einem solchen Austauschverhältnis werde die durch die Festsetzungen erfolgte Beschränkung der Nutzung des eigenen Grundstücks dadurch ausgeglichen, dass auch die anderen Grundeigentümer des Plangebiets diesen Beschränkungen unterworfen seien. Der Nachbar dürfe dann aber auch darauf vertrauen, dass der Bebauungsplan in gleicher Weise für alle anderen Grundeigentümer verbindlich ist. Dementsprechend komme solchen Festsetzungen eine nachbarschützende Wirkung – unabhängig von der konkreten Betroffenheit des Nachbarn – zu.
In dem zugrundeliegenden Fall bejahte das OVG nach umfangreicher Auseinandersetzung mit der Begründung des Plans und detaillierten Hinweisen auf das Planungskonzept ein solches Austauschverhältnis. Die konkreten am Bestand orientierten Festsetzungen dienten dem Ziel der Erhaltung der städtebaulichen Eigenarten des Plangebiets, das sich durch eine kleinteilige, am Elbhang orientierte Bebauungsstruktur auszeichne. Deshalb komme den Baukörperfestsetzungen im gesamten Plangebiet drittschützende Wirkung zu. Da die erteilte Befreiung für die Überschreitung der überbaubaren Grundstücksfläche rechtswidrig sei, könne somit auch der Nachbar die Aufhebung der Baugenehmigung fordern.
Die Folgen der Entscheidung
Das Urteil ist von großer Bedeutung für das System des bauplanungsrechtlichen Nachbarschutzes. Nachdem in der Fachwelt im Nachgang zur Wannsee-Entscheidung teilweise noch diskutiert wurde, ob es sich um eine Einzelfallentscheidung handele und ob hierdurch tatsächlich eine Abkehr von dem traditionellen Nachbarschutz eingeleitet wurde, dürfte es mit der Entscheidung des OVG Hamburg nunmehr Gewissheit herrschen, dass die nachbarlichen Klagemöglichkeiten deutlich ausgeweitet wurden. Das vom Bundesverwaltungsgericht und Oberverwaltungsgericht bemühte „Austauschverhältnis“ ist dabei jedoch ein reichlich konturenloses und schillerndes Kriterium. Es bleibt in rechtlicher Hinsicht zu hoffen, dass die konkreten Maßstäbe, wann ein solches nachbarliches Austauschverhältnis mit Blick auf Maßfestsetzungen eines Bebauungsplans anzunehmen ist, in künftigen Gerichtsentscheidungen noch klarer aufgezeigt und werden. Wenigstens enthält auch die Entscheidung des OVG Hamburg umfangreiche Ausführungen, die verdeutlichen, dass das Gericht keineswegs generell, sondern nur in besonderen Fällen, ein solches Austauschverhältnis annehmen möchte.
Auch die praktische Bedeutung des Urteils kann nicht hoch genug eingeschätzt werden. Unabhängig von der zu erwartenden Widerspruchs- und Klagewelle streitlustiger Nachbarn, lassen die (Hamburger) Baugenehmigungsbörden unter Bezugnahme auf die Entscheidung schon jetzt äußerste Zurückhaltung bei der Gewährungen von Befreiungen von Festsetzungen zur überbaubaren Grundstücksfläche und zur Maß der baulichen Nutzung walten. Diese Verwaltungspraxis ist aber gerade mit dem städtebaulichen Ziel der innerstädtischen Nachverdichtung kaum in Einklang zu bringen. Sollte sich die restriktive Befreiungspraxis durchsetzen und deshalb zunehmend neue Bebauungspläne erforderlich werden, dürften zudem die seitens der Politik gesetzten Ziele zur Schaffung von neuem Wohnraum nur schwer zu realisieren sein.
(OVG Hamburg, Beschluss vom 25. Juni 2019, Az.: 3 Bs 100/19)
Dr. Andreas Wolowski, LL.M.
Rechtsanwalt und Fachanwalt für Verwaltungsrecht