Schrempp-Rücktritt: Ad-hoc-Publizitätspflicht bei zeitlich gestreckten Sachverhalten
Der Bundesgerichtshof hat in dem Rechtsstreit um den Rücktritt des früheren Daimler-Chefs Jürgen Schrempp die Sache zu weiteren Sachverhaltsfeststellungen an das Oberlandesgericht zurückverwiesen. Dies geht aus einem Beschluss des Bundesgerichtshofs vom 23. April 2013 hervor.
Hintergrund
Wesentlicher Kern dieses Rechtsstreits ist die Frage, ab welchem Zeitpunkt die Tatsache, dass der damalige Vorstandsvorsitzende der DaimlerChrysler AG (nunmehr: Daimler AG) Jürgen Schrempp aus der Gesellschaft ausscheidet beziehungsweise dies beabsichtigt, als Insiderinformation zu qualifizieren und damit von der DaimlerChrysler AG unverzüglich im Wege einer Ad-hoc-Mitteilung zu veröffentlichen war.
Am 17. Mai 2005 erörterte Jürgen Schrempp mit dem damaligen Daimler-Aufsichtsratsvorsitzenden Hilmar Kopper seine Absicht, zum Jahresende sein Amt niederzulegen. Anschließend informierte Jürgen Schrempp weitere Mitarbeiter und besprach seine Pläne mit dem Vorsitzenden des Konzern- und Gesamtbetriebsrats. Am 27. Juli 2005 beschloss der Daimler-Präsidialausschuss, dem Daimler-Aufsichtsrat am Folgetag vorzuschlagen, dem vorzeitigen Ausscheiden von Jürgen Schrempp zuzustimmen. Der Aufsichtsrat fasste am Vormittag des 28. Juli 2005 den entsprechenden Beschluss. Anschließend und noch am selben Vormittag wurde die entsprechende Ad-hoc-Mitteilung veröffentlicht. Nach deren Veröffentlichung stieg der Kurs der Daimler-Aktie deutlich an. Mehrere Daimler-Anleger, die ihre Aktien vor diesem Zeitpunkt und zu einem niedrigeren Aktienkurs verkauft hatten, erhoben Klage gegen Daimler, mit der sie Schadensersatz nach § 37b Abs. 1 WpHG wegen der ihrer Ansicht nach verspäteten Ad-hoc-Mitteilung verlangten. Das Unterlassen der rechtzeitigen Veröffentlichung der Ad-hoc-Mitteilung habe zu einem Veräußerungsschaden geführt, den Daimler zu ersetzen habe.
Normativer Anknüpfungspunkt dieses Rechtsstreits ist § 15 Abs. 1 S. 1 WpHG, wonach eine börsennotierte Aktiengesellschaft Insiderinformationen, die sie unmittelbar betreffen, unverzüglich zu veröffentlichen hat (Ad-Hoc-Publizitätspflicht). Eine Insiderinformation ist nach § 13 Abs. 1 Satz 1 WpHG eine konkrete Information über nicht öffentlich bekannte Umstände, die geeignet ist, im Falle ihres öffentlichen Bekanntwerdens den Börsen- oder Marktpreis der Aktien erheblich zu beeinflussen. Nach § 13 Abs. 1 Satz 3 WpHG sind dabei auch solche Umstände relevant, bei denen mit hinreichender Wahrscheinlichkeit davon ausgegangen werden kann, dass sie in Zukunft eintreten werden. § 15 Abs. 3 WpHG erlaubt es der AG jedoch, von der unverzüglichen Veröffentlichung der Insiderinformation abzusehen, sofern es der Schutz ihrer berechtigten Interessen erfordert, keine Irreführung der Öffentlichkeit zu befürchten ist und die AG die Vertraulichkeit der Insiderinformation gewährleisten kann (sog. Selbstbefreiungsentscheidung). Die Veröffentlichung ist unverzüglich nachzuholen, sobald diese Voraussetzungen nicht mehr gegeben sind.
Entscheidung des Bundesgerichtshofs
In seinem Beschluss im Rechtsbeschwerdeverfahren stellte der BGH fest, dass bei einem zeitlich gestreckten Vorgang wie der Herbeiführung eines Aufsichtsratsbeschlusses über den Wechsel im Amt des Vorstandsvorsitzenden jeder isoliert betrachtete Zwischenschritt, auch bereits die Kundgabe der Absicht des amtierenden Vorstandsvorsitzenden gegenüber dem Aufsichtsratsvorsitzenden, vor Ablauf der Amtszeit aus dem Amt zu scheiden - eine Insiderinformation gemäß § 13 Abs. 1 S. 1 WpHG über einen bereits eingetretenen, nicht öffentlich bekannten Umstand sein kann. Dabei soll es „nicht ausschließlich“ auf die Eintrittswahrscheinlichkeit des Endereignisses (hier: zustimmender Aufsichtsratsbeschluss zum Amtswechsel) ankommen. Zudem kann ein Zwischenschritt auch dann eine Insiderinformation im Sinn von § 13 Abs. 1 S. 1 WpHG über einen künftigen Umstand - hier: Zustimmung des Aufsichtsrats oder Wechsel im Amt - sein, wenn nach den Regeln der allgemeinen Erfahrung eher mit dem Eintritt des künftigen Umstands als mit seinem Ausbleiben zu rechnen ist. Diese Beurteilung soll sämtliche tatsächlichen Umstände einbeziehen und – in Abkehr der bisherigen BGH-Rechtsprechung – nur für die Erfassung zukünftiger Ereignisse als Insiderinformationen gelten.
Da es somit weiterer tatrichterlicher Feststellungen bedürfe, ob zu diesen Zeitpunkten Insiderinformationen gemäß § 13 Abs. 1 Satz 1 WpHG vorlagen (Kursspezifität) und, ob diese Information geeignet waren, im Falle ihres öffentlichen Bekanntwerdens den Börsenkurs der Aktien der geschädigten Anleger erheblich zu beeinflussen (Kursrelevanz), verwies der BGH diese Sache an das OLG Stuttgart zurück.
Praxisfolgen
Durch diese Rechtsprechung verlagert der BGH die Ad-hoc Publizitätspflicht bei zukünftigen Ereignissen und gestreckten Sachverhalten zeitlich nach vorne, obwohl der unternehmensinterne Entscheidungsprozess noch nicht abgeschlossen ist. Hierdurch sollen vornehmlich die Anleger einander gleichgestellt und vor der unrechtmäßigen Verwendung von Insiderinformationen geschützt werden. Dies geht jedoch zu Lasten der Aktiengesellschaft und ihrer handelnden Organe, die hierdurch einem erheblichen Haftungsrisiko unterliegen. Denn es ist im Einzelfall gerade nicht mit hinreichender Sicherheit feststellbar, ob „nach den Regeln der allgemeinen Erfahrung“ tatsächlich eine Insiderinformation vorliegt. Um dieser Rechtsunsicherheit entgegenzutreten, empfiehlt es sich in der Praxis insbesondere, das Vorliegen einer Ad-hoc-Publizitätspflicht frühzeitig zu prüfen, rechtzeitig vorsorgliche Selbstbefreiungsentscheidungen gemäß § 15 Abs. 3 WpHG zu treffen, die Vertraulichkeit der Insiderinformation sicherzustellen und die Belehrungen gemäß §§ 15b Abs. 1 S. 4, 15b Abs.4 WpHG durchzuführen.
(Bundesgerichtshof, Beschluss vom 23. April 2013 – Az. II ZB 7/09)
Dr. Philipp Wallau, LL.M., Rechtsanwalt