Juli 2023 Blog

Die verkannte Stärke des euro­päi­schen und deut­schen Design­schut­zes – ein prak­tischer Kurzüber­blick über ak­tuelle Recht­sprech­ungs­ten­denzen

Einführung

Der praktische Anwendungsbereich des EU-Geschmacksmuster- und deutschen Designschutzes im industriellen Bereich ist weitreichend. Eine irgendwie geartete Ästhetik ist für Designschutz keine Voraussetzung. Das allgemeinsprachliche Verständnis von Design und eine teils missverständliche Terminologie zu „ästhetischen Erwägungen“ des Designers bzw. einem „ästhetischen Überschuss“ eines Designs in der Rechtsprechung mögen hier durchaus Zweifel genährt haben. 

Die höchstrichterliche europäische und deutsche Entscheidungspraxis insbesondere der vergangenen zwei Jahre hat aber gerade die Relevanz des Designschutzes für den Bereich (auch) technisch-funktioneller Produktgestaltungen bestätigt, konturiert und teils erheblich gestärkt. Im Fokus stand dabei zuletzt nicht nur die Konkretisierung (Papierspender und Tellerschleifgerät) der Vorgaben des EuGH aus Doceram zum Schutzausschluss für ausschließlich technisch bedingte Designs und Merkmale derselben. Auch die Anforderungen an die Prüfung des schutzbegründenden Erfordernisses der Sichtbarkeit von Bauteilen komplexer Erzeugnisse (Sattelunterseite) und an die Entstehung des (Teile-) Schutzes nicht eingetragener Gemeinschaftsgeschmacksmuster (Front Kit) erfuhren richtungsweisende Schärfungen. Anlass genug für den nachfolgenden Kurzüberblick:

Teileschutz durch nicht eingetragene Gemeinschaftsmuster (Front-Kit)

Die EuGH-Entscheidung Front-Kit betraf die Entstehung des Designschutzes für sichtbare (Teil-) Gestaltungen eines Fahrzeugs durch nicht eingetragene Gemeinschaftsgeschmacksmuster (neGGM) und eine Abgrenzbarkeit etwaiger Teilgestaltungen. Konkret ging es um Umbau-Sets des Edeltuners Mansory, mit dem ein handelsüblicher (nicht limitierter) Ferrari 488 GTB im Stile eines (streng limitierten, nicht straßenzugelassenen) Ferrari FXX-K umgestaltet werden konnte. Ferrari hatte u.a. aus der (Erst-) Veröffentlichung von Fotografien des FXX-K (d.h. des Gesamtfahrzeugs) eine Verletzung dreier neGGM für Teilgestaltungen u.a. des Frontbereichs gerügt.

Anders als es für eingetragene Gemeinschaftsgeschmacksmuster (EU-Designs) Praxis ist, hat der EuGH einen sog. Elementenschutz, d.h. den Schutz für Teilbereiche aus den Fotografien des FXX-K, grundsätzlich nicht ausgeschlossen. Würden Abbildungen eines Erzeugnisses der Öffentlichkeit zugänglich gemacht (wie bei der Veröffentlichung von Fotografien des FXX-K), sei ein Geschmacksmuster auch an einem Teil dieses Erzeugnisses oder an einem Bauelement dieses Erzeugnisses als komplexem Erzeugnis der Öffentlichkeit zugänglich gemacht, sofern die Erscheinungsform dieses Teils oder Bauelements bei dieser Offenbarung eindeutig erkennbar ist. Erforderlich sei, dass das jeweilige Teil oder das in Rede stehende Bauelement einen sichtbaren Teilbereich des Erzeugnisses oder des komplexen Erzeugnisses darstellt, der durch Linien, Konturen, Farben, die Gestalt oder eine besondere Oberflächenstruktur klar abgegrenzt ist. Es stand also die Entstehung eines oder mehrerer neGGM für Teile der Frontgestaltung des Ferrari FXX-K, und daraus folgend auch die mögliche Verletzung durch das angebotene Mansory Front-Kit, in Rede.

Das OLG Düsseldorf (OLG Düsseldorf, Urt. v. 2.2.2023,20 U 124/17 – Front Kits 2) hielt – nach Zurückverweisung der Sache durch den BGH – die beanspruchten Teilgestaltungen nunmehr aber für nicht ausreichend abgrenzbar, jedenfalls aber etwaige neGGMs für nicht verletzt. 

Auch wenn sich damit zeigt, dass die Anforderungen an eine klare und präzise Abgrenzung eines Teilerzeugnisses (und damit nicht eingetragenen EU-Designschutz) eher eng zu verstehen sind, eröffnet die Front-Kit-Rechtsprechung einen durchaus erheblichen praktischen Anwendungsbereich für eine Vielzahl von Produktkategorien auch außerhalb des Automobilsektors. Über das neGGM mögen sich zumindest kurzfristig (kurze Schutzdauer von nur 3 Jahren!) Nachahmer bestimmter, gestalterischer Erkennungsmerkmale elegant ausbremsen lassen, etwa bei kurzlebigen Produktzyklen oder für Bereiche, in denen die Anmeldung registrierter Schutzrechte (z.B. 3D- oder Positionsmarken) praktisch mit Hürden behaftet ist (vgl. Wittmann, IP-Rechtsberater 2022, 222-225). Die sorgfältige Anmeldung separater (Teil-) Designs für die beanspruchten Teilbereiche (bestmöglich in Form von abstrahierten Zeichnungen) dürfte aber wohl weiterhin der Königsweg bleiben.

Sichtbarkeit von Elementen komplexer Erzeugnisse (Sattelunterseite)

Auch die Tragweite des EuGH-Urteils in der Sache Sattelunterseite (EuGH, Urt. v. 16.2.2023, C-472/21 – Sattelunterseite) sollte trotz der eher exotischen Produktgestaltung nicht unterschätzt werden. Unter die weite Auslegung der Sichtbarkeit einer Gestaltung und der bestimmungsgemäßen Benutzung des Erzeugnisses dürfte etwa im Fall auch eine Sichtbarkeit der Unterseite des Sattels für den Endbenutzer bei einem Faltrad in zusammengefaltetem Zustand wohl ausreichen. Das lässt sich auf andere Produktbereiche durchaus übertragen und eröffnet damit die Möglichkeit des Designschutzes für vielfältige Produktkategorien auch im Bereich der Bauteile komplexer Erzeugnisse, etwa Elemente des offenen Uhrwerks einer Automatik-Armbanduhr. Ob eine in Frage stehende Handlung eine solche ist, die der Endbenutzer im Rahmen einer „hauptsächlichen Verwendung“ eines komplexen Erzeugnisses „üblicherweise“ vorzunehmen hat, wird weiterhin eine Einzelfallbetrachtung sein. Potentielle Verletzer sollten aber gewappnet sein, dass die grundsätzlich inhaberfreundliche Auslegung den Designinhaber durchaus ermuntern dürfte, im Verfahren auf jede (nicht rein hypothetische) Verwendungsweise des komplexen Produkts hinzuweisen (vgl. Wittmann, MarkenR 2023, 179-182). Vor einer Erstveröffentlichung etwaiger Produktgestaltungen sollte auch die Möglichkeit des Designschutzes stets geprüft werden.

Ausschluss rein technisch bedingter Gestaltungen (Doceram / Papierspender)

Rein technische Lösungen sollen nicht durch Designschutz blockiert werden können. Deshalb schließt das Designrecht Merkmale eines Erzeugnisses, die ausschließlich durch dessen technische Funktion bedingt sind, vom Schutz aus (Art. 8 Abs. 1 GGV). Andersrum kann eine Übereinstimmung in ausschließlich durch technische Funktion bedingten Merkmalen auch keine Verletzung begründen. 

In Doceram (EuGH, 8.3.2018, C-395/16 - Doceram) hatte der EuGH insoweit vor einigen Jahren schon das (alleinige) Bestehen alternativer Gestaltungen für dieselbe technische Funktion als unzureichend erachtet, eine „ausschließliche“ technische Bedingtheit der konkreten Gestaltung zu widerlegen. Entscheidend sei, ob der konkreten Gestaltung auch gestalterische (nicht: ästhetische) Überlegungen zu Grunde lagen oder diese eben nur den technischen Erfordernissen folgt bzw. die (technische) Funktion der einzige die Merkmale bestimmende Faktor ist. Dazu seien alle objektiven maßgeblichen Umstände des Einzelfalls zu würdigen, wobei es nicht auf die Sicht eines „objektiven Beobachters“ oder informierten Benutzers ankomme. Dass das Bestehen alternativer Designs bei der Beurteilung eine (nicht aber die alleinige) Rolle spielen kann und irrelevant ist, wem diese alternativen Gestaltungen zustehen (Wettbewerber oder Designinhaber), hat der EuGH nunmehr in Papierspender (EuGH, Urt. v. 2.3.2023, C-684/21 – Papierspender) nochmals klargestellt. Eine Mehrfarbigkeit soll bei Designs ohne Farbanspruch (etwa abstrakten schwarz-weiß-Zeichnungen) keine Rolle mehr spielen. 

Die Annahme einer ausschließlichen technischen Bedingtheit für ein gesamtes Design (und damit dessen Nichtigkeit) wird zwar eher seltener in Betracht kommen. Die Darlegungs- und Beweislastverteilung ist aber auf beiden Seiten zu beachten. Auch den Designinhaber kann hier für in seiner Sphäre liegende Umstände, etwa außerhalb einer (Patent-) Offenlegungsschrift liegende Umstände, die auf eine visuelle Bedingtheit eines Merkmals hindeuten, eine sekundäre Darlegungslast treffen. 
Soweit im Designverletzungsstreit die technische Bedingtheit einzelner Merkmale im Streit steht, sollte nach Tellerschleifgerät (BGH, Urt. v. 9.3.2023, I ZR 167/21 – Tellerschleifgerät) die Darlegungs- und Beweislastverteilung für die maßgeblichen objektiven Umstände (z.B. Designalternativen oder technische Schutzrechte) sorgsam beachtet werden. Vortrag des potentiellen Verletzers etwa zu Designalternativen, und in dessen Konsequenz eine genaue Prüfung der einzelnen prägenden Merkmale im Hinblick auf ausschließliche technische Bedingtheit, können den Ausgang des Verfahrens durchaus erheblich beeinflussen. 

Einordnung und Praxishinweis

Zunehmend zeigt sich in der Rechtsprechung, dass EU-Geschmacksmustern und deutschen Designs nicht nur in der Automobilbranche eine wichtige Rolle zukommen. Gerade in der prozessualen Durchsetzbarkeit von Designschutzrechten liegt dabei ein erhebliches Potential. Ob nun Designinhaber oder potentieller Verletzer, der Teufel liegt stets im Detail. Nicht nur bedingt durch das differenzierte Spiel der Darlegungs- und Beweislasten entwickeln sich selbst vermeintlich klare Fälle im Verletzungsverfahren schnell zum Eigentor. Umso bedeutsamer ist eine bereits anfängliche, sorgfältige und designrechtsfachkundige Betreuung und Aufbereitung des Sachvortrags und der Argumentation. Dass bei der Anmeldung von EU-Geschmacksmustern / Designs keine amtliche Prüfung der Schutzvoraussetzungen (Neuheit / Eigenart) erfolgt, kann Fluch oder Segen sein. Zur Risikominimierung sollte bereits bei der Anmeldung etwaiger Designschutzrechte der potentielle Verletzungsfall sorgfältig antizipiert werden. Eine bei Zweifeln über den Schutzgegenstand erforderliche Auslegung des beanspruchten Designs allein anhand der hinterlegten Abbildungen im Register stößt bei Unklarheiten schnell an Grenzen (vgl. hierzu etwa Wittmann, GRUR-Prax 2022, 429-432). 
 
(EuGH, Urt. v. 16.2.2023, C-472/21 – Sattelunterseite)
(EuGH, Urt. v. 28.10.2021, C-123/20 – Front Kit)
(OLG Düsseldorf, Urt. v. 2.2.2023,20 U 124/17 – Front Kits 2)
(EuGH, 8.3.2018, C-395/16 - Doceram)
(EuGH, Urt. v. 2.3.2023, C-684/21 – Papierspender)
(BGH, Urt. v. 9.3.2023, I ZR 167/21 – Tellerschleifgerät)
 
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