Rechtsbestandsvermutung als Chance für Patentinhaber (Eilrechtsschutz)?
Der Gerichtshof der Europäischen Union stellt eine Praxis der Oberlandesgerichte in Frage, wonach einstweilige Verfügungen i.d.R. nur erlassen werden, wenn das Patent bereits ein Einspruchs- bzw. Nichtigkeitsverfahrens überlebt hat. Lebt der Eilrechtsschutz wieder auf?
Einführung
Anders als etwa im Design- oder Markenrecht gingen die Patentsenate der deutschen Oberlandesgerichte (vgl. OLG München, GRUR 2020, 385 - Elektrische Anschlussklemme; OLG Düsseldorf, GRUR-RR 2008, 329 – Olanzapin; OLG Karlsruhe, GRUR-RR 2015, 509 - Ausrüstungssatz) bisher in vielen Fällen davon aus, für den Erlass einer einstweiligen Verfügung in Patentsachen sei ein „gesicherter Rechtsbestand“ des beanspruchten Patents erforderlich. Habe das dem Verfügungsantrag zu Grunde liegende Verfügungspatent vor Erlass kein erstinstanzliches Einspruchs- oder Nichtigkeitsverfahren erfolgreich überstanden, fehle es – aus Gründen der Verhältnismäßigkeit – am erforderlichen Verfügungsgrund. Ein entsprechender Verfügungsantrag sei zurückzuweisen. Von diesem Erfordernis könne auch nur in Ausnahmefällen abgewichen werden, etwa wenn der Bestand des Patents nur deshalb nicht angegriffen wurde, weil er allgemein als schutzfähig anerkannt werde (z.B. namhafte Lizenznehmer), die gegen den Rechtsbestand vorgebrachten Einwendungen sich schon bei der im vorläufigen Rechtsschutzverfahren gebotenen summarischen Prüfung als haltlos erwiesen, oder außergewöhnliche Umstände gegeben sind, die es für den Verfügungskläger wegen der ihm aus einer Fortsetzung der Verletzungshandlungen drohenden Nachteile unzumutbar machen, den Ausgang eines Einspruchs- oder Nichtigkeitsverfahrens abzuwarten. Bei Verletzungshandlungen von Generikaherstellern seien regelmäßig außergewöhnliche Umstände anzunehmen.
Vorlageverfahren und EuGH-Entscheidung
Das Landgericht München I (Beschl. v. 19. Januar 2021, 21 O 16782/20, GRUR 2021, 466) hatte den EuGH insoweit gefragt, ob die geschilderte obergerichtliche Praxis, einstweilige Maßnahmen grundsätzlich zu verweigern, solange das Streitpatent kein erstinstanzliches Einspruchs- oder Nichtigkeitsverfahren überstanden hat, mit den Vorgaben der Enforcement-Richtlinie (2004/48/EG) überhaupt vereinbar sei. Der Gerichtshof lehnte dies ab (EuGH, Urt. v. 28. April 2022, C‑44/21, GRUR 2022, 811), da andernfalls ein innerstaatliches Verfahren, mit dem jede Verletzung eines bestehenden Rechts des geistigen Eigentums unverzüglich beendet werden soll, wirkungslos wäre, d.h. das Ziel eines hohen Schutzniveaus für geistiges Eigentum verfehlte. Da bereits heiß diskutiert wurde (und wird), ob die Formulierung der Vorlagefragen durch die 21. Zivilkammer des LG München I (damaliger Vors. Richter: Tobias Pichlmaier) überhaupt präzise genug / richtig war, lösten die Ausführungen des EuGH zunächst sehr unterschiedliche Reaktionen aus. In Fachkreisen wird daher mit einer gewissen Spannung erwartet, wie die Instanzgerichte mit dem Urteil in der Praxis nun im Einzelnen umgehen würden. Hier gibt es nun erste Erkenntnisse aus München und Düsseldorf.
LG Düsseldorf, Urt. v. 22. September 2022 – 4b O 54/22, GRUR-RS 2022, 26959
Die Kammer 4b des Landgerichts Düsseldorf (Vors. Richter: Dr. Daniel Voß) hat mit Urteil vom 22. September 2022 geäußert, dass „mit der Erteilung des Verfügungspatents als solcher – noch ohne Berücksichtigung des Umstandes, dass Gegenstand des Prüfungsverfahrens Einwendungen Dritter waren – (…) keine Vermutungswirkung für den Rechtsbestand des Verfügungspatents verbunden“ sei. Insoweit zweifelt die Düsseldorfer Kammer in dem mittlerweile am OLG Düsseldorf anhängigen Verfahren (Az. I-2 U 117/22) bereits an, dass der EuGH mit seinen Ausführungen, wonach für europäische Patente ab dem Zeitpunkt der Veröffentlichung ihrer Erteilung eine Vermutung der Gültigkeit bestehe (aaO Rn. 41) überhaupt eine Vermutung im rechtlichen Sinne meine. Dem Patenterteilungsakt komme – so das Urteil – auch nicht deshalb ein größeres Gewicht zu, weil im Rahmen des Prüfungsverfahrens Einwendungen Dritter Berücksichtigung gefunden haben. Zwar könne ein so durchgeführtes Erteilungsverfahren einer Entscheidung in einem zweiseitigen Einspruchsverfahren gleichstehen, und insoweit ein für die Beurteilung des Rechtsbestandes durch das Verletzungsgericht vergleichbares Gewicht erlangen, so dass ein Unterlassungsgebot regelmäßig auszusprechen wäre. Im konkreten Fall liege aber eine dem Erteilungsakt entgegenstehende Einspruchsentscheidung zum Stammpatent vor, die nicht offensichtlich fehlerhaft sei. Der jedenfalls teilweise Widerruf des Stammpatents führe deshalb vorliegend zur Widerlegung der Rechtsbestandsvermutung.
LG München I, Urt. v. 29. September 2022 – 7 O 4716/22, GRUR-RS 2022, 26511
Mit Urteil vom 29. September 2022 hat auch die 7. Kammer des Landgerichts München I (Vors. Richter: Dr. Hubertus Schacht) – explizit ohne Entscheidungsrelevanz für den konkreten Fall – klargestellt, dass sie „(jedenfalls) für europäische Patente“ mit dem Unionsgerichtshof davon ausgehe, „dass für Europäische Patente ab dem Zeitpunkt der Veröffentlichung ihrer Erteilung eine Vermutung der Gültigkeit“ streite. Für die im Rahmen des Verfügungsgrundes vorzunehmende Prüfung des hinreichenden gesicherten Rechtsbestandes des Verfügungspatents sei „(nunmehr) aufgrund der Vermutung der Gültigkeit zunächst von einem gesicherten Rechtsbestand auszugehen“ und es obliege im zweiseitigen einstweiligen Verfügungsverfahren dem Antragsgegner bzw. Verfügungsbeklagten, diese Vermutung zu erschüttern. Die Annahme, durch die Vorlage einer für den Bestand des geltend gemachten Patentanspruchs (vorläufigen) negativen Einschätzung aus einem Bestandsverfahren werde die Vermutung der Gültigkeit regelmäßig erschüttert, gelte dabei grundsätzlich auch für (vorläufige) negative Einschätzungen aus inländischen oder ausländischen Bestandverfahren betreffend Parallelschutzrechte, die dieselbe Priorität in Anspruch nehmen. Sei die Vermutung der Gültigkeit durch den Verfügungsbeklagten erschüttert, obliege es dem Antragsteller / Verfügungskläger darzulegen und ggf. glaubhaft zu machen, der Rechtsbestand des Verfügungspatents sei trotz der gegen den Rechtsbestand erhobenen Angriffe hinreichend gesichert. Bei Vorlage (vorläufiger) negativer Einschätzungen aus Bestandsverfahren sei auch vorzutragen und ggf. glaubhaft zu machen, dass und warum die (vorläufige) negative Einschätzung fehlerhaft ist (Diagnose) und im weiteren Gang des Bestandsverfahren überwunden werden wird (Prognose). Die dazu notwendige Argumentation sei schriftsätzlich so aufzubereiten, dass die Kammer in die Lage versetzt werde, die Beurteilung ohne Beweisaufnahme (mit „Bordmitteln“), sicher treffen zu können. Sei eine sichere Beurteilung der Ausführungen zur Diagnose und Prognose nicht möglich, sei der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Verfügung regelmäßig zurückzuweisen.
Einordnung und Praxishinweis
In beiden Verfahren wurden im Verfügungsverfahren europäische Patente beansprucht. Grundsätzlich stellte sich daher auch die Frage des Umgangs mit der EuGH-Entscheidung. Mitglieder der Düsseldorfer Richterschaft hatten bereits im Voraus erkennen lassen, an der bestehenden Praxis festhalten zu wollen. Dass das LG München I der fehlenden Entscheidungsrelevanz zum Trotz nun explizit äußert, zumindest für europäische Patente (dem EuGH folgend) eine Rechtsbestandsvermutung anzunehmen, ist zumindest interessant. Es bleibt zu beobachten, ob und wie sich insbesondere der Münchener Patentsenat auf die Ausführungen der 7. Kammer des LG München I einlassen wird. In der Praxis dürften jedenfalls die Erwartung an einen Anstieg der Verfügungsanträge nun zumindest etwas gedämpft sein.
(LG Düsseldorf, Urt. v. 22.09.2022 – 4b O 54/22, GRUR-RS 2022, 26959 - MS-Therapie III)
(LG München I, Urt. v. 29.09.2022 – 7 O 4716/22, GRUR-RS 2022, 26511 - Fingolimod)