Februar 2024 Blog

Massenentlassungen: 2. und 6. BAG-Senat nähern sich an, aber neue Vorlage an den EuGH

Ausgangslage: Massenentlassungsvorschriften als gesetzliche Verbote i.S.v. § 134 BGB

Der 2. BAG des BAG hat beginnend mit Urteil vom 22.11.2012 (2 AZR 371/11) ein Sanktionssystem entwickelt, nach dem nahezu alle Fehler des Arbeitgebers im Massenentlassungsverfahren zur Nichtigkeit entsprechender Kündigungen führen. Die Massenentlassungsvorschriften werden insoweit als gesetzliche Verbote i.S.v. § 134 BGB interpretiert. Das gilt für Fehler im Konsultationsverfahren (§ 17 Abs. 2 KSchG) wie im Anzeigeverfahren gegenüber der Agentur für Arbeit (§ 17 Abs. 1 i.V.m. Abs. 3 KSchG).

Aufkommende Differenzen im BAG und EuGH-Urteil

Zunächst folgte der für Kündigungen in der Insolvenz zuständige 6. Senat dieser Rechtsprechung, bezweifelte dann aber, ob Verstöße gegen die Massenentlassungsvorschriften zwangsläufig zur Nichtigkeit einer Kündigung führen müssen. Weder die Richtlinie 98/59/EG (Massenentlassungsrichtlinie, folgend MERL) noch das deutsche Recht sähen eine ausdrückliche Sanktion vor. Im Ergebnis eines Vorabentscheidungsersuchens des 6. Senates (Beschl. v.  27.01.2022, 6 AZR 155/21 (A); vgl. hierzu Waelde, Newsletter 2/2022) entschied der EuGH, dass jedenfalls die Pflicht nach Art. 2 Abs. 3 UAbs. 2 MERL (umgesetzt in § 17 Abs. 3 Satz 1 KSchG) keinen Individualschutz vermittelt (Urt. v. 13.07.2023, C-134/22; (vgl. hierzu Klasen Humans Resources Manager).

Divergenzvorlage des 6. an den 2. Senat vom 14.12.2023, 6 AZR 157/22 (B)

Der 6. Senat meint, nach diesem EuGH-Urteil könne das vom 2. Senat seit 2012 entwickelte Sanktionssystem für Fehler im Anzeigeverfahren gegenüber der Agentur für Arbeit nicht fortbestehen. Zwar will er für Fehler im Konsultationsverfahren am Verständnis von § 17 Abs. 2 KSchG als Verbotsgesetz i.S.v. § 134 BGB festhalten, im Übrigen aber seine bisherige Rechtsprechung für Fehler im Anzeigeverfahren gegenüber der Agentur für Arbeit aufgeben. Gem. § 45 Abs. 3 Satz 1 ArbGG hat er den 2. Senat gefragt, ob dieser an seiner gegenteiligen Rechtsprechung festhalte.

Neues Vorabentscheidungsersuchen des 2. Senats an den EuGH

Auf diese Divergenzvorlage hat der 2. Senat am 01.02.2024 mit einem Aussetzungs- und Vorlagebeschluss an den EuGH reagiert und ihm 4 Fragen zur Auslegung der MERL vorgelegt:

  1. Kann eine Kündigung im Rahmen einer anzeigepflichtigen Massenentlassung das Arbeitsverhältnis erst dann beenden, wenn die Entlassungssperre abgelaufen ist? Bejahendenfalls:
  2. Setzt das Ablaufen der Entlassungssperre nur eine Massenentlassungsanzeige voraus oder muss diese den Vorgaben in Art. 3 Abs. 1 Unterabs. 4 MERL genügen?
  3. Kann ein Arbeitgeber nach Ausspruch anzeigepflichtiger Kündigungen die unterlassene Massenentlassungsanzeige mit der Folge nachholen, dass nach Ablauf der Entlassungssperre die Arbeitsverhältnisse durch die schon zuvor erklärten Kündigungen beendet werden können?
  4. Falls die Fragen 1 und 2 bejaht werden:
    Kann nationales Recht es der zuständigen Behörde überlassen, für Arbeitnehmer unanfechtbar und für Arbeitsgerichte bindend festzustellen, wann die Entlassungssperre im konkreten Fall abläuft, oder muss den Arbeitnehmern zwingend ein gerichtliches Verfahren zur Überprüfung der behördlichen Feststellung eröffnet sein?

Begründung des 2. Senats

Der 2. Senat hält es nun mit dem 6. Senat für möglich, dass es unverhältnismäßig ist, wenn eine ohne ordnungsgemäße Massenentlassungsanzeige ausgesprochene Kündigung gem. § 134 BGB nichtig ist. Jedoch hält er die Ansicht des 6. Senats, das Fehlen oder die Fehlerhaftigkeit einer Massenentlassungsanzeige habe keinen rechtlichen Einfluss auf die Beendigung eines gekündigten Arbeitsverhältnisses, für unionsrechtswidrig. Geboten sei eine differenzierte Betrachtung:

(1) Unterbleibe eine Massenentlassungsanzeige, erhalte die für die Arbeitsvermittlung zuständige Agentur für Arbeit keine Kenntnis von bevorstehenden Entlassungen. Sie sei dann nicht in der Lage, die notwendigen Vorbereitungen für Vermittlungsbemühungen der Entlassungsbetroffenen einzuleiten. Daher wolle der 2. Senat die Ansicht vertreten, dass die Rechtswirkungen der Kündigung erst dann eintreten, wenn die Massenentlassungsanzeige nachgeholt worden ist und die Agentur für Arbeit die aus Ihrer Sicht notwendige Vorbereitungszeit für Vermittlungen hatte. Dieser Zeitraum bestimme sich nach § 18 Abs. 1 und 2 KSchG (Entlassungssperre). Bestünde eine solche Nachholungsmöglichkeit nicht, komme dies der Nichtigkeit (Unwirksamkeit) der Kündigung gleich. Er müsse dann dem 6. Senat antworten, der 2. Senat halte an der bisherigen Rechtsprechung fest.

(2) Mit Anzeige einer Massenentlassung leite der Arbeitgeber ein Verwaltungsverfahren ein, in dem eine Behörde die Vollständigkeit der Anzeige prüfte (Amtsermittlung, § 20 SGB X). D.h. die Agentur für Arbeit müsse auf die Ergänzung unvollständiger Angaben durch den Arbeitgeber hinwirken. Allein die Agentur entscheide nach nationalem Verfahrensrecht über die Ordnungsmäßigkeit der Anzeige und die Dauer der erforderlichen Vorbereitungszeit für die bevorstehende Arbeitsvermittlung. Stelle die Agentur den Ablauf der Entlassungssperre zu einem konkreten Datum fest, sei dies für den Arbeitnehmer unanfechtbar und für die Arbeitsgerichte bindend; sie dürften dann nicht mehr in eigener Kompetenz annehmen, die Massenentlassungsanzeige sei fehlerhaft und die Entlassungssperre nicht an- oder abgelaufen. Aus Art. 4 Abs. 1 MERL sei abzuleiten, dass die Entlassungssperre nur dann an- und damit ablaufen könne, wenn die Massenentlassungsanzeige den Vorgaben von Art. 3 Abs. 1 Unterabs. 4 MERL entspricht. Der 2. Senat gehe aufgrund der Formulierung in Art. 6 MERL sowie deren Erwägungsgrund 12 („administrative und/oder gerichtliche Verfahren“) davon aus, es genüge, wenn die nach nationalem Recht zuständige Behörde eine Massenentlassungsanzeige auf ihre Ordnungsmäßigkeit prüfe und bejahendenfalls das Ende der Entlassungssperre feststelle.

Praxisfolgen

Nach seinem o. g. Urteil vom 13.07.2023 erscheint es nicht unrealistisch, dass der EuGH die Vorlagefragen des 2. Senats positiv beantwortet. Dies unterstellt, käme es zu einer erheblichen Abmilderung des bisherigen Sanktionssystems, wenn auch weniger weit als nach der Ansicht des 6. Senats. Er würde vor der Frage stehen, ob er dem folgt. Daran dürfte er kaum vorbeikommen, da der 2. Senat eng im Anschluss an die MERL argumentiert und der 6. Senat ebenfalls zur unionsrechtskonformen Auslegung der deutschen Massenentlassungsvorschriften verpflichtet ist. Für den Praktiker würden sich die Folgen von Fehlern bei der Erstattung von Massenentlassungsanzeigen deutlich reduzieren und so eine Entspannung dieses risikobehafteten Bereichs eintreten. Einstweilen bleibt aber abzuwarten, ob der EuGH dieses Ergebnis möglich macht. Bis sollten Arbeitgeber vorsorglich die bisherige strengere Rechtsprechung des BAG zu Massenentlassungsanzeigen beachten.

Soweit im Unternehmen ein Betriebsrat besteht, bestehen demgegenüber nach einhelliger Ansicht beider Senate die Nichtigkeitsrisiken im Konsultationsverfahren fort. Dies ist tragbar, da regelmäßig zugleich eine Interessenausgleichspflicht (§ 111 BetrVG) bestehen wird und nach der Rechtsprechung beide Verfahren, die sich teilweise überschneiden, miteinander verbunden werden können.

BAG Beschluss vom 01.02.2024, 2 AS 22723 (A)

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