AGVO-Änderung und TCTF als Bausteine des „Green Deal Industrial Plan“
Am 23. Juni 2023 hat die Europäische Kommission eine Änderung der Allgemeinen Gruppenfreistellungsverordnung (AGVO) angenommen, um die Unterstützung des ökologischen und digitalen Wandels in der EU weiter zu vereinfachen, diese Transformation zu beschleunigen und gleichzeitig die fairen Wettbewerbsbedingungen im Binnenmarkt zu schützen.
Die AGVO ermöglicht es den Mitgliedstaaten der Europäischen Union, bestimmte Beihilfemaßnahmen unmittelbar durchzuführen. Mit ihr werden bestimmte Gruppen von staatlichen Beihilfen, deren Vorteile nach Ansicht der Kommission für die Gesellschaft stärker ins Gewicht fallen als etwaige Verfälschungen des Wettbewerbs, von der Pflicht zur vorherigen Anmeldung bei der Kommission freigestellt. So können die Mitgliedstaaten bereits über 90 % aller neuen Beihilfemaßnahmen mit Ausnahme von Krisenmaßnahmen ohne vorherige Genehmigung durch die Kommission durchführen. Wenn eine staatliche Beihilfe nicht die Kriterien der AGVO erfüllt, bedeutet dies nicht zwingend, dass sie mit den EU-Beihilfevorschriften unvereinbar ist, sondern nur, dass sie vor ihrer Durchführung bei der Kommission angemeldet werden muss. Die Kommission prüft dann, ob die Maßnahme nach den EU-Beihilfevorschriften genehmigt werden kann, wenn sie mit dem Binnenmarkt vereinbar sein sollte.
Diese Änderung der AGVO und der neue „Befristete Rahmen zur Krisenbewältigung und zur Gestaltung des Wandels“ (Temporary Crisis and Transition Framework – TCTF)“ sollen es den Mitgliedstaaten einfacher machen, die für Schlüsselsektoren erforderliche finanzielle Unterstützung im Einklang mit dem „Industrieplan zum Grünen Deal“ zu gewähren.
Hintergrund
Am 1. Februar 2023 legte die Kommission die Mitteilung „Ein Industrieplan zum Grünen Deal für das klimaneutrale Zeitalter“ vor. Dabei handelt es sich um ein Maßnahmepaket, mit dem der Übergang der europäischen Industrie zur Klimaneutralität vorangetrieben werden und ihre Position im globalen Wettbewerb gestärkt werden soll. Die Mitteilung beruht auf vier Säulen:
- ein planbares und vereinfachtes regulatorisches Umfeld;
- schneller Zugang zu benötigten Finanzmitteln;
- Kompetenzaufbau für Arbeitskräfte und
- offener Handel für resiliente Lieferketten.
In diesem Zusammenhang hat die Kommission beschlossen, den Zugang zu Finanzmitteln für die sog. „Netto-Null-Industrie“ zu erweitern und zu beschleunigen. Die Netto-Null-Industrie sind diejenigen Sektoren, die für die Erreichung der Klimaneutralität bis 2050 nach Ansicht der Kommission entscheidend sind. Neben Maßnahmen im Zusammenhang mit Förderprogrammen der Europäischen Union (REPowerEU, InvestEU, EU-Innovationsfonds) werden einige Maßnahmen im Bereich der staatlichen Beihilfen vorgenommen.
Vorgesehene Maßnahmen
Um die in der Mitteilung genannten Ziele zu erreichen, passt die Kommission ihre Beihilfenvorschriften an. Ein Großteil der Anpassung wird nun durch die Änderung der AGVO und einer Änderung des befristeten Krisenrahmens (Temporary Crisis Framework – TCF), der zu einem befristeten Krisen- und Übergangsrahmen (Temporary Crisis and Transition Framework – TCTF) umgestaltet wird, umgesetzt.
Diese Neuerungen stehen besonders im Fokus:
- Mehr Möglichkeiten zur Gewährung von Umweltschutz- und Energiebeihilfen, um beispielsweise den Ausbau erneuerbarer Energien, Dekarbonisierungsvorhaben, umweltfreundliche Mobilität und Biodiversität zu fördern und Investitionen in erneuerbaren Wasserstoff und die Steigerung der Energieeffizienz zu erleichtern;
- Erhöhung der Beihilfeintensitäten und Anhebung der Anmeldeschwellen, um die Durchführung bestimmter Vorhaben mit Beihilfeempfängern in mehreren Mitgliedstaaten, z.B. von wichtigen Vorhaben von gemeinsamem europäischem Interesse (IPCEI), in den Bereichen Forschung und Entwicklung zu erleichtern;
- mehr Möglichkeiten für Schulungs- und Umschulungsmaßnahmen in vielen Sektoren durch die Freistellung von Ausbildungsbeihilfen im Umfang von weniger als 3 Mio. EUR;
- Freistellung von Beihilfemaßnahmen der Mitgliedstaaten zur Regulierung der Energiepreise (z.B. der Preise für Strom, Gas und aus Erdgas oder Strom erzeugte Wärme);
- deutliche Anhebung der Anmeldeschwellen für Umweltschutzbeihilfen sowie für Beihilfen für Forschung, Entwicklung und Innovation;
- Präzisierung und Straffung der Bestimmungen über Risikofinanzierungsbeihilfen für kleine und mittlere Unternehmen (KMU) und Unternehmensneugründungen sowie für aus dem Fonds „InvestEU“ geförderte Finanzprodukte;
- Verlängerung der AGVO bis Ende 2026 aus Gründen der Rechtssicherheit und der Regulierungsstabilität;
- Anhebung der Schwellenwerte in der AGVO sogar über die konkret zu überprüfenden Bereiche hinaus, um der längeren Geltungsdauer der Vorschriften Rechnung zu tragen;
- Anpassung der AGVO-Bestimmungen an die neuen, seit der jüngsten AGVO-Novellierung ergangenen Regionalbeihilfeleitlinien, die Klima-, Umweltschutz- und Energiebeihilfeleitlinien, die Risikofinanzierungsleitlinien, den Unionsrahmen für Forschung, Entwicklung und Innovation und die Breitbandleitlinien.
Durch diese Änderungen soll es der Europäischen Kommission zufolge möglich werden, die für die „grüne Transformation“ zusätzlich benötigten privaten Finanzierungsmittel zu beschaffen. Darum verfolgt die Kommission seit der Mitteilung zur Modernisierung des EU-Beihilferechts (State Aid Modernisation – SAM) aus dem Jahr 2012 auch mit dieser gezielten Änderung weiterhin den Ansatz, dass staatliche Beihilfen immer einen Anreiz auf private Beteiligte ausüben und ein bestehendes Marktversagen korrigieren müssen.
Ausbau: Der TCTF
Durch die Transformation soll die Gewährung von Beihilfen für den Einsatz erneuerbarer Energien und Maßnahmen zur Dekarbonisierung industrieller Prozesse weiter vereinfacht werden. Dies geschieht durch Erweiterung des Katalogs an in Frage kommenden Technologien und Verzicht auf einige restriktive zwingende Anforderungen.
Die Kommission beabsichtigt außerdem, ausnahmsweise die Gewährung höherer Beihilfen als üblich zu erlauben, wenn dies erforderlich ist, um die Subventionen zu kompensieren, die ein europäischen Unternehmen im Bereich der strategischen Netto-Null-Technologien in einem Drittland außerhalb des EWR potenziell erhalten würde. Dieser „Matching-Aid-Mechanismus“, der als Antwort auf den US-amerikanischen Inflation Reduction Act (IRA) betrachtet werden kann und die unlängst erlassene Verordnung über den Binnenmarkt verzerrende drittstaatliche Subventionen (vgl. dazu unsere Beiträge hier und hier) ergänzt, ist dem europäischen Beihilfenrecht in dieser Ausprägung bislang unbekannt.
Außerdem werden die zulässigen Beihilfenbeträge mit höheren Beihilfenintensitäten und höheren Beihilfenobergrenzen moduliert. Dies gilt unter der Voraussetzung, dass Investitionen in Bereichen getätigt werden, die zur Konvergenz zwischen verschiedenen Mitgliedstaaten und Regionen beitragen, also einen sogenannten „Spillover-Effekt“ erzeugen. Die Kommission macht damit staatliche Beihilfen in den Bereichen attraktiver, die der Vertiefung des EU-Binnenmarktes dienen sollen. Die Vorschriften des TCTF werden bis zum 31. Dezember 2025 gelten – so sieht es jedenfalls die derzeitige Roadmap vor. Es bleibt abzuwarten, ob Krisenmanagement und Wandel im Jahr 2026 nicht mehr erforderlich sein werden und ob die Übergangsregelungen dann ihren Zweck erfüllt haben werden.
Beschleunigung und Erweiterung: Erhöhung der AGVO-Schwellenwerte und neue Freistellungstatbestände
Die in Art. 4 der AGVO enthaltenen Anmeldeschwellen werden in jedem Bereich erhöht und es werden neue Freistellungstatbestände eingeführt (s.o.). Diese Erhöhung und Erweiterung verfolgt das Ziel, die Gewährung von staatlichen Beihilfen zu beschleunigen und dadurch die Bürokratie zu reduzieren.
Ausblick und Praxisfolgen
Nachdem die Kommission den englischen Wortlaut der Änderung zur AGVO gebilligt hat, wird diese in den kommenden Wochen nach der Übersetzung des Textes in alle EU-Amtssprachen förmlich angenommen. Die geänderte AGVO tritt sodann am Tag nach ihrer Veröffentlichung im Amtsblatt der Europäischen Union in Kraft.
Ihre Geltungsdauer wird um drei Jahre bis zum 31. Dezember 2026 verlängert. Die mit der Flexibilisierung der AGVO-Regeln einhergehenden Lockerungen der Beihilfenkontrollpolitik basieren nicht nur auf einer rein marktwirtschaftlichen Herangehensweise, sondern folgen auch der Logik der aktuellen Industriepolitik der Kommission.
In ihrer Ansprache zur Vorstellung des „Green Deal Industrial Plans“ sagte die für Wettbewerb zuständige Exekutiv-Vizepräsidentin der Europäischen Kommission Margrethe Vestager:
„Die Wettbewerbsfähigkeit in Europa kann nicht auf staatlichen Beihilfen aufgebaut werden (…). Wir werden sicherstellen, dass Zusammenhalt und Wettbewerb gewahrt werden, um gleiche Ausgangsbedingungen im Binnenmarkt zu gewährleisten.“
Die Erhöhung der Meldeschwellen oder die Einführung neuer Freistellungstatbestände bringt keine nennenswerten Veränderungen der zugrundeliegenden Struktur der AGVO mit sich. Somit sind die angenommenen Änderungen die einfachste und flexibelste Möglichkeit, staatliche Beihilfen im größeren Maßstab kurzfristig – im Sinne der der derzeitigen Industriepolitik der Kommission – zu ermöglichen. Wichtige Ziele wie der Klimaschutz haben in der Praxis der Europäischen Kommission in den letzten Jahren allerdings eine spürbare Privilegierung erfahren. Die Flexibilisierung der dazugehörigen AGVO-Regeln soll nun ein Schritt hin zu mehr Klimaschutz sein und, wie beabsichtigt, die digitale und grüne Transformation vorantreiben. Eine konsolidierte Fassung der AGVO liegt derzeit noch nicht vor, dürfte aber in Kürze im Amtsblatt der Europäischen Union veröffentlicht werden.