Pflicht zur Neuausschreibung laufender öffentlicher Aufträge bei Leistungsstörungen?
Nahezu sämtliche Vertragsbeziehungen sind durch die Corona Pandemie gestört.
- Auftragnehmer verweigern aus Sorge um ihre Mitarbeiter Bauarbeiten auf dem Klinikgelände.
- Aufträge verteuern sich, da die Lieferketten unterbrochen sind und nur teurere Artikel eingesetzt werden könnten, als ursprünglich kalkuliert wurden.
- Auftraggeber können Leistungen aus dem Homeoffice nicht rechtzeitig abrufen und koordinieren.
- Angebote können bei der Submission nicht geöffnet werden, da hierzu die Teilnahme von zwei Personen am gleichen Bildschirm erforderlich ist.
Auswirkungen der Corona-Pandemie als Fall höherer Gewalt?
Wie können die Vertragsparteien mit diesen Umständen umgehen? Die Auswirkungen sind bereits jetzt so gravierend, dass an höhere Gewalt zu denken ist. Bei höherer Gewalt handelt es sich nach Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (BGH) um
„ein betriebsfremdes, von außen herbeigeführtes Ereignis, das unvorhersehbar und ungewöhnlich ist, und das mit wirtschaftlich erträglichen Mitteln auch durch die äußerste, nach der Sachlage vernünftigerweise zu erwartenden Sorgfalt nicht verhütet oder unschädlich gemacht werden kann.“ (vgl. u.a. BGH, Urt. v. 16.05.2017 – X ZR 142/15 = NJW 2017, 2677)
Das Bürgerliche Gesetzbuch bietet bei Schwierigkeiten zur Leistungserbringung aufgrund von höherer Gewalt zwei Instrumente:
- die Anpassung, Kündigung oder den Rücktritt vom Vertrag wegen Störung der Geschäftsgrundlage nach § 313 BGB
- die Befreiung von der Leistungs- und Gegenleistungspflicht wegen Unmöglichkeit der Leistung nach §§ 275, 326 BGB
Sofern die Leistungserbringung aufgrund von höherer Gewalt für eine Vertragspartei mit einem erheblichen finanziellen Mehraufwand oder einer umfangreichen Ablaufstörung verbunden ist, kommt eine Anpassung des Vertrags wegen Störung der Geschäftsgrundlage nach § 313 Abs. 1 BGB in einer Vielzahl von Vertragsverhältnissen in Betracht. Hierfür müssen folgende Voraussetzungen erfüllt sein:
- es liegt eine nachträgliche Änderung vertragswesentlicher objektiver Umstände vor („reales Element“)
- bei Voraussehen dieser Änderungen durch die Parteien wäre es zu keinem Vertragsschluss gekommen („hypothetisches Element“)
- das Festhalten am unveränderten Vertrag müsste unzumutbar sein („normatives Element“)
Auch insoweit bedarf es einer umfassenden Prüfung des Einzelfalls. Möglich wäre der Bedarf von Vertragsanpassungen wegen den Auswirkungen behördlicher Verbote und Einschränkungen, Warenengpässen oder wegen Hindernissen am Einsatz entsprechend qualifizierten Personals.
Vertragsanpassungen bei öffentlichen Aufträgen – Erforderlichkeit einer erneuten Ausschreibung des Auftragsgegenstandes?
Die Grundsätze der Störung der Geschäftsgrundlage sind nach Rechtsprechung des BGH auch auf vergaberechtliche Verträge anwendbar (vgl. u.a. BGH v. 30.6.2011 – VII ZR 13/10 Rdnr. 21) Demnach können auch Auftragnehmer von Auftraggebern in Einzelfällen die Anpassung eines Bau-, Dienst- oder Liefervertrages verlangen.
Ob und inwieweit eine Vertragsanpassung nach § 313 BGB eine Pflicht zur Neuausschreibung nach § 132 GWB eröffnet, ist allerdings umstritten und wurde bislang nicht höchstrichterlich entschieden.
Enthalten die Vertragsgrundlagen eine Überprüfungsklausel?
Von Bedeutung kann dabei sein, ob Überprüfungsklauseln in den Vertrag aufgenommen wurden. Eine Überprüfungsklausel gibt beiden Vertragsparteien das Recht, eine gemeinsame Überprüfung des Ursprungsauftrags in Bezug auf die vereinbarten, präzise formulierten Aspekte zu verlangen. Soweit die vereinbarten Anpassungsvoraussetzungen erfüllt sind, kann eine Vertragspartei eine gemeinsame Abstimmung über vorzunehmende Anpassungen, also den Abschluss eines dementsprechenden Änderungsvertrags (Vertragsanpassung) verlangen. Die Vornahme einer Vertragsänderung aufgrund einer Überprüfungsklausel ist nach § 132 Abs. 2 Nr. 1 GWB zulässig, sodass kein neues Vergabeverfahren erforderlich wird.
Rechtfertigen unvorhersehbare Umstände eine Auftragsänderung ohne Neuausschreibung?
Nach § 132 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 GWB muss der Auftraggeber auch dann kein neues Vergabeverfahren durchführen, wenn die Änderung bzw. Ausweitung eines bestehenden Auftrags aufgrund von Umständen erforderlich geworden ist, die der öffentliche Auftraggeber im Rahmen seiner Sorgfaltspflicht nicht vorhersehen konnte, und sich aufgrund der Änderung der Gesamtcharakter des Auftrags nicht verändert.
Es sprechen gute Gründe dafür, dass die Auswirkungen des Coronavirus für die meisten Aufraggeber nicht vorhersehbar gewesen sind. Denn weder die dynamische Entwicklung der Ausbreitung des COVID-19-Erregers noch die daraus resultierenden konkreten Bedarfe konnten in ihrem Umfang und der Kurzfristigkeit ihrer Erforderlichkeit auch bei Beachtung aller Sorgfaltspflichten vorhergesehen werden. Diese Auffassung vertritt jedenfalls das Bundesministerium für Wirtschaft und Energie (BMWi) in seinem aktuellen Rundschreiben vom 19.03.2020.
Der Gesamtcharakter des jeweiligen Vertrags dürfte in den meisten Fällen unverändert bleiben. Anders wäre das nur dann, wenn z. B. anstelle einer Lieferleistung eine Dienstleistung eingekauft würde. Keine Änderung des Gesamtcharakters liegt beispielsweise vor, wenn lediglich die Liefermengen der vereinbarten Leistung erhöht werden.
Sofern die Voraussetzungen des § 132 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 GWB für eine Vertragsanpassung vorliegen, darf nur bis zu einer bestimmten Obergrenze von der Auftragsanpassung ohne Durchführung eines Vergabeverfahrens Gebrauch gemacht werden. Nach § 132 Abs. 2 Satz 2 GWB darf der Preis nicht um mehr als 50 % des Wertes des ursprünglichen Auftrags erhöht werden.
Finden die vergaberechtlichen Grenzen einer Auftragsänderung nach § 132 GWB überhaupt Anwendung auf die Anpassung eines in seiner Geschäftsgrundlage gestörten öffentlichen Auftrags?
Ist hingegen keine Überprüfungsklausel in den Vertrag aufgenommen worden oder die Obergrenze von 50% des Wertesdes ursprünglichen Auftrags erreicht, stellt sich die Frage, ob die – auch im Vergaberecht mögliche – Anpassung des Vertrages nach § 313 Abs. 1 BGB den Auftraggeber zur Durchführung eines neuen Vergabeverfahrens nach § 132 Abs. 1 S. 1 GWB verpflichtet.
In der Literatur wird teilweise eine Pflicht zur Neuausschreibung durch den Auftraggeber befürwortet.
Die wohl herrschende Meinung vertritt allerdings die Auffassung, dass die Anpassung eines öffentlichen Auftrags gem. § 313 BGB überhaupt nicht in den Anwendungsbereich des § 132 GWB fällt. § 132 GWB regele nur, unter welchen Voraussetzungen die von den Vertragspartnern selbst beabsichtigte vertragliche Änderung eines öffentlichen Auftrags ein neues reguläres Vergabeverfahren erfordere. Dagegen sei die Anpassung eines in seiner Geschäftsgrundlage gestörten öffentlichen Auftrags die beiderseitige Verwirklichung des gesetzlichen Anspruchs gem. § 313 BGB, also keine nach §132 GWB selbst beabsichtigte vertragliche Änderung. Diese stehe außerhalb des Regelungsbereichs des § 132 GWB, selbst dann, wenn die Vertragspartner ihre beiderseitigen Anpassungsansprüche aus § 313 BGB im gemeinsamen Zusammenwirken in der Form eines Anpassungsvertrags durchsetzen. Auch dann bleibe der Zweck entscheidend, dass der Anpassungsvertrag nur dazu dient, die gesetzlichen Anpassungsansprüche aus § 313 BGB zu einem für beide Partner zumutbaren Ergebnis zu führen. Ein solches Vorgehen sei vergaberechtlich irrelevant, d.h. ohne Weiteres zulässig, es sei denn, der Anpassungsvertrag wird zur gezielten Umgehung des Vergaberechts missbraucht.
Auftraggeber sind angesichts der unklaren Rechtslage daher gut beraten, sich im Einzelfall bei Vertragsanpassungen rechtlich beraten zu lassen, um das Risiko eines Nachprüfungsverfahrens oder auch der Rückforderung von Zuwendungen wegen missbräuchlicher Umgehung des Vergaberechts abzuwenden.
Berechtigen bzw. verpflichten die absehbaren Unwägbarkeiten bei der Vertragsausführung öffentliche Auftraggeber zur Aufhebung laufender Vergabeverfahren?
Dem Haushaltsrecht unterworfene Einheiten, also jedenfalls alle Auftraggeber nach § 99 Nr. 1 GWB, aber auch zahlreiche funktionelle öffentliche Auftraggeber gemäß § 99 Nr. 2 GWB, sollten vor Zuschlagserteilung davon unabhängig auch stets prüfen, ob die absehbaren Auswirkungen der Pandemie auf die Vertragsausführung einen anderen schwerwiegenden Grund im Sinne von § 63 Abs. 1 Nr. 4 VgV darstellen. In der Folge wäre ein aktuell laufendes Vergabeverfahren nicht durch Zuschlag zu beenden, sondern durch Aufhebung.
Dr. Dietrich Drömann
Dr. Bettina Meyer-Hofmann
Dr. Michael Kleiber